1972 kam Annemarie Griesinger als erste Frau in Baden-Württemberg ins Landeskabinett. Jetzt ist sie im Alter von 87 Jahren gestorben.

Stuttgart - Sie war die Jüngste und hatte fünf Brüder. Ihre Familie hat Annemarie Griesinger – damals hieß sie noch Roemer – entscheidend geprägt. „Die Annemarie kletterte nicht nur auf die höchsten Bäume, sondern konnte auch als erste in der Familie durch die Finger pfeifen“, erzählte ihr älterer Bruder Georg. Keine schlechte Schule für eine Politikerin.

 

Dass sie eine solche, in der CDU gar zu einer Institution werden würde, wusste sie damals natürlich noch nicht. Sie wollte Schauspielerin werden. Ihr Vater, evangelischer Theologe und Studienprofessor im Markgröninger Lehrerinnenseminar, hielt das für keine gute Idee. So machte die Tochter 1942 Abitur, arbeitete als Schwesternhelferin, bildete sich zur Jugend- und Wirtschaftsfürsorgerin weiter und arbeitete als Fürsorgerin, heute würde man Sozialarbeiterin sagen, im Landkreis Ludwigsburg.

Die Politik war der Familie nicht fremd. Vater Hermann Roemer gehörte zu den Mitbegründern der CDU nach dem Krieg. Heinz Griesinger, der Mann, den „Ami“ 1953 heiratete, leitete im Kreis Ludwigsburg die Junge Union. 1956 trat Annemarie Griesinger der Nachwuchsorganisation der Christdemokraten bei, 1958 der CDU.

Siegreich in der SPD-Hochburg

Dann startete ihre Politkarriere zügig durch. 1961 kandidierte Griesinger für den Deutschen Bundestag, wenn auch erfolglos. 1964 aber rückte sie nach Bonn auf. Wilhelm Hahn war Kultusminister im Südwesten geworden und hatte deswegen das Bundesparlament verlassen. 1965 und 1969 schaffte sie den Einzug in den Bundestag; 1969 – dem Jahr es Wechsels zur sozialliberalen Koalition – nahm sie der SPD sogar das Direktmandat im Wahlkreis Ludwigsburg ab – und wurde mit dem Vizevorsitz der CDU-Bundestagfraktion belohnt.

Auch im Bonner Bundeshaus blieb das Temperament der schwäbischen Frau nicht verborgen. Fast jeden Donnerstag, so wird berichtet, machte sie von sieben bis acht Uhr im Turnkeller des Abgeordnetenhauses ihre Übungen und errang mehrfach das Goldenen Sportabzeichen. Auch politisch kümmerte sie sich um Sport – und die Landfrauen. Als Mensch erwarb sie sich höchsten Respekt. „Annemarie Griesinger ist eine Politikerin, von deren Holz man sich mehr wünschte“, sagte zum Beispiel Robert Antretter von der konkurrierenden SPD. „Ihre Prinzipien sind ihr wichtiger als Partei und Position; wenn sie jemandem Wertschätzung entgegenbringt, kennt sie keine Parteigrenzen“, hat er beobachtet. So kam es wohl auch, dass Griesinger und die SPD-Ikone Herbert Wehner „sich in Wertschätzung, ich vermute fast in Zuneigung, gegenüberstanden“.

Unfreiwillig zurück nach Bonn

1972 holte der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger diese Person in sein Kabinett. Griesinger war die erste Frau in einem solchen Amt im Südwesten überhaupt. Sie wurde Sozialministerin, baute die Diakonie- und Sozialstationen flächendeckend im Land aus, führte ein durchaus auch in der Union umstrittenes Familiengeld für nicht erwerbstätige Mütter ein und beförderte den Ausbau von Behindertenwerkstätten.

Ihr Politikstil wird als „mütterlich und ausgleichend“ beschrieben. Ihr späterer Chef Lothar Späth spürte aber auch, „dass Annemarie Griesinger ihre so positive Ausstrahlung mit einer gehörigen Portion Raffinesse verbinden kann, wenn sie ein politisches Ziel in greifbare Nähe gerückt sieht“.

Späth nutzte ihr Kommunikationstalent, nachdem er Griesinger gegen ihren Willen 1980 aus dem Sozialressort weg zur Ministerin für Bundesangelegenheiten befördert hatte. Auch in der Rolle wirbelte die Frau, zog sich aber 1984 zurück, blieb freilich unermüdlich bis zuletzt in vielen sozialen Ehrenämtern und in der CDU aktiv. Sie starb am Montag mit 87 Jahren während eines Freizeitaufenthalts in Bad Urach.