Es ist kalt an diesem Morgen. Diakon Eberhard Steinhilber ist zum Friedhof gekommen, um einen Menschen zu Grabe zu tragen. Klingt alltäglich, ist es aber nicht – denn niemand kennt den Namen des Toten, Steinhilber nicht, das Friedhofsamt nicht und die Polizei auch nicht.

Stuttgart - Am Morgen hat es geregnet. Als Eberhard Steinhilber auf dem Friedhof ankommt, fängt die Sonne an zu scheinen. Doch es bleibt kalt. Eberhard Steinhilber tauscht die wind- und wettertaugliche Kleidung gegen das Gewand des evangelischen Diakons. Er ist wegen einer Bestattung auf den Hauptfriedhof nach Steinhaldenfeld gekommen. Das ist für einen Menschen mit seinem Beruf zunächst nichts Ungewöhnliches. Doch die Umstände sind an diesem Morgen alles andere als alltäglich: Der Mensch, der an diesem Vormittag zu Grabe getragen wird, ist vollkommen unbekannt. Niemand kennt seinen Namen. Eberhard Steinhilber kennt ihn nicht, beim Friedhofsamt kennt man ihn nicht, auch bei der Polizei kennt man ihn nicht. Entsprechend kennt auch keiner die Geschichte dieses Menschen.

 

Alles, was man über ihn weiß, ist, dass er ein 40- bis 50-jähriger Mann ist, der sich das Leben genommen hat. Warum er sterben wollte, weiß man nicht. Er hatte keine Papiere bei sich und auch sonst keine persönlichen Gegenstände oder Dokumente. Mehrere Wochen lang hat die Polizei versucht, seine Identität herauszufinden. Vergebens. Keine Datei gab Auskunft. Niemand scheint den Mann zu vermissen: Kein Verwandter, kein Kollege, kein Nachbar, kein Vermieter, kein Freund meldete sich. Die DNA des Toten ist erhoben und verschickt. Auch das hat nicht geholfen. „Wir wissen gar nichts. Das ist schon merkwürdig“, sagt der Polizeisprecher Jens Lauer. Er kann sich nicht erinnern, solch einen Fall schon einmal erlebt zu haben.

Die Möglichkeiten der Polizei sind also erschöpft

Einen verwahrlosten Eindruck habe der Tote nicht gemacht, Asylbewerber seien in der Regel irgendwo untergebracht und würden gegebenenfalls vermisst, geht Lauer ein paar Möglichkeiten durch. Sollte der Mann aus dem Ausland sein, wäre eine Identifizierung extrem schwierig, meint Lauer. Dies sei schon allein deshalb oft nicht möglich, weil es längst nicht überall Melderegister gebe. Die einzige Möglichkeit, dem Namenlosen doch noch einen Namen geben zu können, sei die, dass sich jemand meldet, der ihn identifiziert. „Wir sind eigentlich darauf angewiesen“, sagt Jens Lauer. Die Möglichkeiten der Polizei sind also erschöpft.

Auch Eberhard Steinhilber hat in seiner rund 30-jährigen Laufbahn als Diakon noch nie einen Menschen bestattet, dessen Namen er nicht gekannt hat. „Es gibt auf der Welt eigentlich keinen Menschen, der namenlos ist“, sagt er. „Aber namenlos heißt nicht, ohne Namen“, führt er den Gedanken bei der kleinen Trauerfeier im engen Foyer des Friedhofsgebäudes fort. Obwohl es keine Angehörigen oder Freunde gibt, die dem Toten das letzte Geleit geben, steht Steinhilber nicht allein an dem schlichten, hellen Holzsarg. Das Chörle ist da – und dafür ist der Diakon sehr denkbar. Das Chörle singt ehrenamtlich bei Bestattungen, die die Stadt anordnet, weil sonst niemand da ist, der sich darum kümmert.

Im Jahr 2012 gab es 355 von diesen angeordneten Bestattungen. Aber auch, wenn diese Toten in einem anonymen Urnenfeld beigesetzt werden, kennt man ihre Namen. Dass ein Verstorbener tatsächlich unbekannt war, sei in den vergangenen 25 Jahren vielleicht vier- oder fünfmal vorgekommen, sagt Stefan Braun, der stellvertretende Leiter der Friedhofsabteilung des städtischen Garten-, Friedhofs- und Forstamtes. In allen Fällen sei die Identität aber irgendwann geklärt worden.

Der Tote auf dem Steinhaldenfriedhof ist einstweilen noch unbekannt. „Wie viele Menschen gibt es, deren Namen ich nicht kenne, die aber wichtig für mich sind?“, überlegt Eberhard Steinhilber. Und seine Stimmkraft steht ganz im Gegensatz zu diesen eher stillen Gedanken; sie wirkt in dem kleinen Vorraum wie eingesperrt. Er ist froh, dass er dem unbekannten Toten, wenn schon keinen Namen, so doch wenigstens eine letzte Ruhestätte geben kann – und damit auch Würde. „Heute ist ein besonderer Tag, weil wir einen Menschen bestatten dürfen“, sagt der Diakon. „Er wird nicht entsorgt.“ Das Chörle singt für den Namenlosen.

Der Sarg sinkt hinab ins Grab

Steinhilber und die Chörles-Sänger haben Immergrün und Blumen mitgebracht. Sie schmücken den Sarg mit Rosen und Christrosen. Dann fahren die Friedhofsmitarbeiter den Sarg hinaus, die kleine Prozession folgt ihnen. Der Friedhof ist groß. Ein paar Mal biegt die Gruppe ab – dann lassen die Männer den Sarg langsam hinabsinken ins Grab.

Dass der unbekannte Tote erdbestattet wird, ist nicht selbstverständlich. Üblich ist bei den von der Stadt angeordneten Fällen eine Urnenbeisetzung. Doch weil man über diesen Menschen gar nichts wisse, habe man sich für die Erdbestattung entschieden, sagt Stefan Braun vom Friedhofsamt. Bei Moslems oder traditionellen Christen sei die Feuerbestattung beispielsweise „nicht gültig“, erklärt Braun. Zudem hätten etwaige Angehörige so immer noch die Möglichkeit, ihn in ihrem Sinne oder an einem anderen Ort beizusetzen, nennt er einen weiteren Grund für die Erdbestattung .

Die Leichenträger haben ihre Arbeit getan, sie gehen zurück, verschwinden hinter der nächsten Wegbiegung. Eberhard Steinhilber und das Chörle treten an das offene Grab. Sie lassen abermals Blumen und Grün auf den Sarg fallen, der Diakon spricht noch ein paar Worte, das Chörle singt „Nichts soll dich ängstigen, nichts soll dich quälen“. Ob das dem Mann zu Lebzeiten wohl mal jemand gesagt hat? Wie inszeniert fällt ein Sonnenstrahl auf die Szenerie. Und die Sänger setzen abermals an: „Oh Heiland, reiß die Himmel auf.“