Noch vor wenigen Jahren konnte man völlig anonym durch das Internet surfen. Das ist heute so gut wie unmöglich. Daran sind auch die Nutzer schuld.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Datenschutz und Anonymität sind geradezu klassische Themen bei der Diskussion über das Internet: "Daß bei der allgemeinen Zugänglichkeit von Internet der Datenschutz nur unzureichend gewährt ist, nehmen die Benutzer bewußt in Kauf", schrieb die Stuttgarter Zeitung vor sechzehn Jahren in einem ihrer ersten Beiträge zum "Datenhighway".

 

Seither hat sich unsere Wahrnehmung von Anonymität im und durch das Internet verändert. Online geschieht heute das meiste unter Nennung des vollständigen, echten Namens. Das war nicht immer so, und es muss nicht immer so bleiben; vor allem müsste man mal darüber sprechen. Der allgemeine Diskurs, obwohl er vor mehr als fünfzehn Jahren begonnen hat, war von technischer Ahnungslosigkeit und politischen Schnellschüssen geprägt. Dabei brauchen wir dringend eine umfassende, informierte Diskussion zur Rolle von Anonymität in der zentralen Kulturtechnik unserer Zeit: der Internetnutzung.

Das wird anstrengend, denn es gibt nicht die eine, richtige Antwort, wie sie die Piratenpartei derzeit verspricht. Vielmehr muss jedem bewusst sein, was er im Netz tut. Das ist der einzige Weg, um sich nicht von Webanbietern ausnutzen zu lassen und die fatalistischen Warnungen von Datenschützern einordnen zu können. Ohne Internet geht es nicht mehr. Doch viel zu wenige Nutzer sind derzeit mündig im Sinne informationeller Selbstbestimmung.

Nutzer sind bereit, Informationen preiszugeben

Wenn wir diese Debatte und die Übersetzung in politische Entscheidungen versäumen, wird es bald mehr Kuriositäten à la Thilo Weichert geben: Der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte will von norddeutschen Unternehmen, die weiter den Klick auf "Gefällt mir" bei Facebook erlauben, Bußgeld kassieren - der Knopf des US-Online-Netzwerks gehe mit deutschem Datenschutz nicht konform. Weil die Behörden das nicht ändern können, ahnden sie eben Verstöße dagegen. Das ist Netzpolitik mit dem Holzhammer.

Im Grunde ist jede Bewegung im Web nachvollziehbar. Technisch besteht es aus nicht anonymen Teilnehmern. Diesen "Pfad" können wir nicht mehr verlassen, es wäre zu teuer. Anonymität im Netz hat aber auch mit dem Nutzungsverhalten zu tun. Der Trend ist eindeutig: Ganze Geschäftsmodelle - Google, Facebook - gründen auf der Bereitschaft der Nutzer, werberelevante Informationen preiszugeben.

Die Bedeutung von Anonymität im Internet hat sich stark gewandelt. Als mehr und mehr Menschen online gingen, begann zunächst die Hochzeit der Pseudonyme. Hier mailte "topfpflanze", da plauderte "marie38w" mit "asd127", dort äußerte sich "spddieter" zur Regierung Schröder. Stets ging es um das, was geschrieben wurde und nicht darum, wer schrieb. Man träumte von einer neuen Öffentlichkeit, in der sich Argument gegen Autorität durchsetzt.


Die heutige Online-Welt ist von einem ganz anderen Paradigma geprägt. Ex-Innenminister Thomas de Maizière forderte das Ende der "schrankenlosen Anonymität" im Internet - das klingt nach Grundgesetzänderung. Randi Zuckerberg, Marketingchefin beim weltgrößten Netzwerk Facebook und Schwester von Gründer Mark, sagt: "Ich glaube, die Menschen verstecken sich hinter der Anonymität und haben das Gefühl, sie könnten hinter verschlossenen Türen sagen, was immer sie wollen."

Dass sich im Netz gar niemand "verstecken" kann, zeigt die Episode um fünf Daimler-Mitarbeiter, die im Frühjahr ihren Chef und S-21-Befürworter Dieter Zetsche zur "Spitze des Lügenpacks" zählten. Die Äußerung taten sie in einer "privaten" Facebook-Gruppe. Nachdem dann doch jemand geplaudert hatte, war die üble Nachrede leicht nachzuweisen.

Facebook steht für das Web 2.0. Darin geht es weniger um das Abrufen von Informationen als vielmehr um Interaktion. Klarnamen sind dafür essenziell: Man will ja gerade Bekannte finden und von ihnen gefunden werden. Weil das Internet zudem mit wachsendem Funktionsumfang immer wichtiger geworden ist, verwachsen die Online- und die Offline-Welt - und damit auch unsere Online- und Offline-Identitäten. Das ist auch an der Entwicklung der Online-Netzwerke nachzuvollziehen: Der Vorreiter Myspace ermutigte seine Nutzer, eine zweite, virtuelle Identität zu schaffen. Bei der aktuellen Nummer eins, Facebook, sind Klarnamen üblich und gewünscht. Der neueste Dienst, Google Plus, wirft Nutzer sofort raus, wenn sie sich mit Pseudonym anmelden. Sogar E-Mail-Adressen, aus denen der Name des Inhabers nicht hervorgeht, wirken inzwischen suspekt.

Im Web 1.0 wurden noch keine Daten gesammelt

So wandelte sich das Internet binnen zehn Jahren von einem Netz mit ansatzweise anonymen Nutzern zu einem Raum, in dem jede Aussage einer Person zugeordnet werden kann. Da macht es keinen Spaß, Hinweise für die Aufklärung von Gesetzesverstößen zu geben, von politischen Aktivisten in autoritären Regimen ganz zu schweigen. Das hat weniger mit Klarnamen zu tun als mit der technischen Nachvollziehbarkeit jeder Bewegung im Netz.

Darüber spricht derzeit höchstens eine kleine Fachöffentlichkeit. Wer will sich schon mit Details des IPV6-Adressraums auseinandersetzen, der gerade in aller Eile eingeführt wird? Dass damit womöglich jedes internetfähige Gerät eine fixe Adresse bekommt und Bewegungen im Netz noch einfacher als bisher einzelnen Nutzern zugeordnet werden können - das ist ein feuchter Traum von Ermittlern und Marktforschern oder macht den "intelligenten Stromzähler" möglich. Die Masse der Webnutzer hat es bisher nicht gekümmert.

Als das Internet noch ein Kommunikationsmittel für Forscher war, schien diese Diskussion abwegig. Man wollte ja gerade wissen, welcher Kollege einen anschrieb. "Erst als das Netz zum Massenphänomen wurde, wurde mit dynamischen Adressen eine gewisse Anonymität geschaffen", sagt Joachim Charzinski von der Stuttgarter Hochschule der Medien. In den Neunzigern traf man sich online vor allem in Diskussionsforen, rief Informationen ab und schrieb E-Mails. Im Web 1.0 "gab es noch keine ökonomischen Anreize, Nutzerdaten zu sammeln", sagt Kurt Jaeger vom Chaos Computer Club. Deshalb sammelte auch niemand Nutzerdaten.


Mit der Zeit kam man davon ab. Neue Funktionen bedeuteten dabei stets weniger Anonymität. Erst schätzte man es, dass Amazon nach dem Motto "Das könnte Ihnen auch gefallen" Bücher oder CDs vorschlug, die zum anhand bisheriger Käufe errechneten Geschmack des Kunden passen könnten. Parallel wurde Google mit seiner vermeintlich kostenlosen Suchmaschine zum Marktführer. Das Unternehmen verfeinert die Methoden zur Analyse seiner Nutzer bis heute - die Suche wird dadurch komfortabler und die Werbeeinnahmen steigen. Dann machte Facebook soziale Interaktion im Netz zum Massenphänomen - alles mit Klarnamen und Einverständnis der Nutzer zur Analyse ihrer Vorlieben.

Das Internet, ursprünglich eine Erfindung für das US-Militär, verdankt seine Innovationen seit gut fünfzehn Jahren - Wikipedia ist eine Ausnahme - der Privatwirtschaft. Im Netz darf jeder tun und lassen, was er will. Online wird daher gemacht, was ökonomisch funktioniert und was die Nutzer mitmachen.

Im Netz setzte sich schnell die Gratiskultur durch. Bis heute fließt bei so gut wie keinem erfolgreichen Dienst für Endverbraucher Geld zwischen Anbieter und Nutzer. Deshalb nimmt es nicht wunder, dass - wie schon zuvor beim Privatrundfunk - die Werbeindustrie der größte Treiber für die Weiterentwicklung des neuen Mediums war. Die beliebtesten Dienste finanzieren sich durchweg über Werbeeinnahmen - also über Anzeigen oder werberelevante Daten, die beim Nutzen hinterlassen werden. Deshalb geht der Trend zum Klarnamen weiter, solange es allseits akzeptiert ist, Daten gegen Gratisdienste zu tauschen. Facebook oder Google Plus sind die neueste Stufe dieser Entwicklung: Man macht bei den Netzwerken nicht etwa für einen Beitrag mit, sondern zahlt unbemerkt - eben mit seinen Daten.

Internet ist nicht nur Raum zur Kontaktaufnahme

Fast die Hälfte der von ihr befragten Nutzer habe schon einmal die Folgen von zu viel Plauderfreudigkeit im Netz zu spüren bekommen, berichtet die Hamburger Medienpsychologin Sabine Trepte aus einem Forschungsprojekt zur Privatsphäre im Web 2.0. Dennoch steige die Bereitschaft zur Selbstoffenbarung weiter. Um das "Privacy-Paradox" zu erklären, benutzt Trepte das Bild von der Spitze des Eisbergs: Nur der kleinere Teil der Risiken, aber auch des Nutzens digitaler Selbstoffenbarung sei dem Durchschnittsnutzer bewusst.

Das Internet sei eben nicht nur ein Raum zur Kontaktaufnahme, sagt Trepte. "Hier formen die Nutzer ihre Identität, hier probieren sich Jugendliche unbeobachtet aus, hier sind Menschen mit Handicap gleichwertig", so die Forscherin. Der Umfang, in dem Daten ausgelesen und verkauft werden, sei selten voll bekannt. Die gefühlte Anonymität, die für das Wohlbefinden im Netz zentral ist, übersteige daher die tatsächliche, informationelle Anonymität. "Je mehr von den Risiken unter der Wasseroberfläche bleibt, desto wohler fühlen sich die Nutzer", sagt Sabine Trepte.

Aber ist, wer sich nicht bewusst für den einen oder anderen Umgang mit Anonymität im Netz entscheidet, ein mündiger Internetnutzer?


"Das Netz verändert sich so dynamisch, dass die Leute nicht alles mitkriegen", glaubt Kurt Jaeger vom Chaos Computer Club. Er vermutet "Faulheit und Bequemlichkeit" hinter der Offenheit im Netz.

Solche Ausreden dürfen angesichts einer durchschnittlichen Internetnutzung von mehr als zwei Stunden pro Tag nicht gelten. Aber es stimmt schon: das World Wide Web wird ziemlich klein, wenn man nur Angebote nutzt, bei denen absolute Anonymität gesichert ist. Netzwerke und Shops wären tabu. Man dürfte keine Musik abrufen und keine Videos; schnelles Surfen wäre ebenfalls nicht drin: Wer einen möglichst kleinen "Datenschatten" hinterlassen will, muss auf spezielle Dienstleister zurückgreifen - das ist langsam und kostet. Deshalb verstärkt sich der Trend zur Deanonymisierung selbst.

Das gilt auch für die inhaltliche Struktur des Webs. Das Internet ist kein der rationalen Argumentation verschriebenes "Netz der vielen" mehr; vielleicht war es das nie. Es ist ein "Netz der wenigen"; es wird dominiert von einigen Meinungsführern, von den Massen konsumiert und für Privates genutzt. Wer im Web was zu sagen hat, tritt daher mit Klarnamen auf - als Marke. Blogger sind zumindest in der westlichen Welt keine idealistischen Kommentatoren, sondern machen sich im Netz einen Namen und vermarkten diesen nach Kräften - als Autoren, Talkshowgäste oder Multiplikatoren für Werbebotschaften.

Die Daten liegen im Netz herum

Insofern ist es geradezu naiv, wenn Innenminister ein Ende der Anonymität im Netz fordern - es gibt sie gar nicht. Bombenbastlern kommt der Verfassungsschutz auch so auf die Schliche. Wichtiger wäre, dass die gefühlte Anonymität die tatsächliche nicht länger übersteigt. Das ist nämlich der Grund für das Schweigen über die informationelle Selbstbestimmung im Netz.

Man muss schon einen Hang zu Verschwörungstheorien haben, um zu glauben, dass künftig jeder Klick ausgewertet wird, nur weil es (auch dank Vorratsdatenspeicherung) technisch geht. Fragen sind trotzdem erlaubt: "Was, wenn Internetprovider mit den Verbindungsdaten ihrer Kunden Geld machen wollen?", fragt Kurt Jaeger vom Chaos Computer Club: "Was, wenn der Staat, ein Unternehmen jemanden fertigmachen will?" Hierzulande mag das die Ausnahme sein, was aber ist mit autoritären Regimen, Geheimdiensten, der Mafia, Terroristen und Drogenhändlern?

Die Daten liegen im Netz herum. Mit dem von der EU geförderten Forschungsprojekt Indect wird derzeit ein System entwickelt, mit dem Sicherheitsfirmen und Polizisten diese Online-Spuren mit Bildern von Überwachungskameras und biometrischen Daten von Reisepässen vollautomatisch kombinieren können. Dann werden Nutzer nicht mehr nur in von Werbefirmen definierte Schubladen gesteckt, sondern sind in der Tat gläsern. Sie sitzen bei diesem Spiel nicht am längeren Hebel.

Ländergrenzen im World Wide Web

Weder die europäische noch die deutsche Politik sieht Handlungsbedarf. Kritische Köpfe fordern zwar ein "Recht auf Anonymität". Das ist jedoch das genaue Gegenteil von dem, was Thomas de Maizière mit seiner Absage an die "schrankenlose Anonymität" im Netz formuliert hat. An diesem Widerspruch müsste sich die gesellschaftliche Diskussion entzünden. Tut sie aber nicht, denn zum einen hält nur eine kleine Minderheit das Thema hoch. Zum anderen haben Innenpolitiker gar kein Interesse an mehr Anonymität im Netz: Der Staatsanwalt hat es umso leichter, je mehr Daten hinterlassen werden. Wenn man sich online künftig mit seinem elektronischen Personalausweis identifiziert und Internetanschlüsse weiter nur gegen Vorlage des Personalausweises freigeschaltet werden, freut das alle Anhänger eines orthodoxen Verständnisses von innerer Sicherheit.

Rechner lassen sich dank IPV6-Adresse künftig genauer einem Land zuordnen. "Wenn Sie dann etwa ein österreichisches Online-Casino besuchen wollen, wie es in Deutschland verboten ist, kommen Sie nicht durch", vermutet der Münsteraner Rechtswissenschaftler Thomas Hören.

Ländergrenzen im World Wide Web: da kann der Staat Macht zurückgewinnen, während Parteien und Verwaltungen weiter keine technisch fundierten und politisch klugen Antworten auf die relevanten netzpolitischen Fragen geben können. Es muss bessere Wege geben, sie dazu zu zwingen, als die Piratenpartei zu wählen.


IPV4: Wenn sich ein Computer oder Smartphone ins Internet einwählt, weist der Online-Anbieter (zum Beispiel T-Online) eine IP-Adresse zu - zufällig und bei jeder Einwahl eine andere.

IPV6: Der IPV4-Adressraum ist für die vielen Internetgeräte zu klein, der neue Standard heißt IPV6. Er umfasst die unvorstellbar große Zahl von 340 Sextillionen Adressen. Damit kann jedes internetfähige Gerät eine feste Adresse erhalten. Diese Adressen enthalten mehr Informationen über den Computer des Internetnutzers als die alten IPV4-Adressen. Das erleichtert zugleich, das Nutzungsverhalten im Internet auf einen Nutzer zurückzubeziehen - man muss einfach die fixe IP-Adresse kennen.

Spuren: Die Einführung von IPV6 verläuft zögerlich, weil bislang kein Zwang zum Umstieg besteht. Internetanbieter kommen aber schon jetzt auf anderen Wegen zu Nutzerdaten: Sie zwingen ihre Besucher, ein Kundenkonto anzulegen oder speichern Cookies auf dem Rechner des Nutzers. Diese Dateien werden bei jedem neuen Besuch der Seite abgeglichen.