So viele Flüchtlinge wie noch nie haben dieses Jahr den Zaun der spanischen Exklave Melilla erklommen. Sie stürmen die Grenze zu Hunderten und nichts hält sie auf – weder Stacheldraht noch Stöcke.

Melilla - Der durchdringende Ton einer Trillerpfeife reißt Matheo aus dem Schlaf. Es ist drei Uhr nachts, der Himmel über Marokko sternenklar. Er kriecht unter der Plastikplane hervor, die er über ein paar Stöcke gespannt hat, und schlüpft in seine Flip-Flops. Seit Wochen campt der 25-jährige Kameruner mit den schmalen Schultern in den Pinienwäldern des Berges Gurugu. Ungeduldig hat er darauf gewartet, auf diesen Pfiff, auf das Zeichen zum Aufbruch in ein besseres Leben.

 

Zwei Metallhaken und ein Telefon, mehr hat Matheo nicht dabei. „Gott hilf uns“, betet er im Stillen. Ein Zurück gibt es nicht. Zu groß sind die Erwartungen seiner Familie in der 3700 Kilometer entfernten Küstenstadt Douala. Auf ihm, dem ältesten Sohn, ruhen die Hoffnungen, sie haben vor eineinhalb Jahren ihr Geld zusammengelegt, um ihn auf die Reise zu schicken, auf dass er Arbeit finde und sie eines Tages von Europa aus versorgen kann.

Matheo wird alles riskieren in dieser Nacht der Apokalypse. So haben die Männer in den Bergen ihr Unterfangen genannt. Weltuntergang, denn ein jeder von ihnen könnte sterben. Ganz leise müssen sie sein, kein Handyklingeln darf sie verraten, mehr als Flüstern ist nicht erlaubt. All das erzählt Matheo gut zwei Monate später, als er längst in Sicherheit ist, als er keine Angst mehr haben muss, verhaftet zu werden. Sie sind viele an diesem 28. Mai 2014, mehr als tausend, denn gemeinsam sind sie kaum zu stoppen, Flüchtlinge aus Kamerun, Mali, Nigeria, dem Kongo. Jede Nation hat ihren Anführer, der die Kommandos gibt, alles ist streng hierarchisch.

Narben sind bleibende Erinnerungen an Grenzstürme

Ihr Weg führt vom improvisierten Lager hinab Richtung Grenze, sie schleichen den Ziegenpfad entlang, über Geröll bis fast ins Sichtfeld der Überwachungskameras von Melilla. „Du musst in einer Minute dreißig rüber, oder sie erwischen dich.“ Matheo und seine Freunde wissen, wie schmerzhaft der Stacheldraht an der Grenze ist, das zeigen die kleinen Narben an den Händen und Armen. Bleibende Erinnerungen an misslungene Grenzstürme. Die blauen Flecken von den Stöcken der marokkanischen Polizei verschwinden dagegen wieder.

Mit Stöcken prügeln marokkanische Polizisten auf Flüchtlinge ein. Foto: EFE

Der Zaun zwischen Afrika und Europa sieht aus, als trenne er Länder im Krieg. Eine Stahlfront, zwölf Kilometer lang und sechs Meter hoch, mit einer Krone aus Nato-Stacheldraht, die Haut wie Papier schneidet. Drähte und Gitter, Stahlfäden und Metallklingen sollen Melilla vor den Eindringlingen aus Afrika schützen. Die 80 000-Einwohner-Stadt und ihre Zwillingskommune Ceuta, ein gutes Stück weiter westlich an Marokkos Küste, sind koloniale Überbleibsel in spanischen Händen. Zwei Exklaven mit lang gezogenen Stränden, die vom Handel und Schmuggel leben, vom regen Grenzverkehr und dem Geld aus Madrid. Es sind die einzigen Landgrenzen der EU mit Afrika, und wer den Dreifachzaun überwindet, kann Asyl beantragen im Schengen-Raum. Dieses Jahr haben es allein in Melilla schon mehr als 3500 Flüchtlinge geschafft, so viele wie nie zuvor. Bald jede Woche stürmen Schwarzafrikaner in großen Gruppen die Hochsicherheitsanlage. In dieser Woche waren es einmal 800, einmal 600 Menschen – je größer die Gruppe, umso erfolgreicher.

Der frühere Chef des Zaunes ist krisenerfahren

Kaum einer kennt den Zaun so gut wie Juan Antonio Gallego. Die grüne Uniformmütze der Guardia Civil ins Gesicht gezogen, im Schatten eines Wachturms, redet der Offizier über den Druck, der auf seinen Kollegen lastet. „Wir haben 180 Beamte zur Verstärkung bekommen, einen neuen Helikopter und Spezialisten für die Überwachung von Menschenmassen, doch es bringt nichts.“ Die Beamten seien dem Ansturm nicht gewachsen. „Das ist wie bei den Büffeln, so eine rennende Horde lässt sich nicht aufhalten“, sagt der Beamte mit den drei goldenen Sternen auf den Epauletten.

Am nördlichsten Punkt der Grenze hat Gallego beides im Blick, rechts das glitzernde Mittelmeer, das Melilla so einladend macht. Links die Stahlgitter und Drähte, die abschreckender kaum sein könnten. Der 61-Jährige, bis vor Kurzem oberster Chef des Zauns, ist krisenerfahren. Früher hat er im Baskenland den Terror der Untergrundorganisation ETA bekämpft, einmal wäre er fast von einer Autobombe getötet worden. Gallego zeigt auf die Überwachungskameras, jede 100 Meter eine, weist auf die schwarzen Kabel hin, die einen akustischen Alarm auslösen, wenn sie berührt werden. „Künftig werden es die Flüchtlinge schwerer haben“, kündigt er an und ist überzeugt vom Abschreckungscharakter der neuesten Errungenschaft am Zaun. Ein Stahlgitter, das das Klettern fast unmöglich macht, mit Löchern so klein, dass die Finger nicht mehr hindurchpassen. „Wir haben bald die ganze Strecke damit gesichert“, sagt Gallego und grüßt nebenbei einen marokkanischen Soldaten, der jenseits des Grenzstreifens mit Schlagstock und Helm patrouilliert.

Die Zusammenarbeit mit den Nachbarn funktioniere bestens. „Es gab Zeiten, da haben wir einfach die eingebauten Türen im Zaun aufgemacht und die Flüchtlinge den Marokkanern übergeben.“ Darüber, ob das noch immer geschieht, will der sonst so auskunftsfreudige Offizier lieber nichts sagen. Denn die heißen Abschiebungen, wie das Durchreichen der Flüchtlinge am Zaun genannt wird, sind illegal. Wer spanischen Boden betritt, hat auch das Recht dort zu bleiben. Aber in Melilla ist das Flüchtlingslager am Stadtrand seit Monaten überfüllt, die Behörden sind froh über jeden Asylantrag weniger, den sie bearbeiten müssen.

Matheo läuft ins Auto marokkanischer Polizisten hinein

Die Apokalypse rückt näher. Morgens um fünf, als der Muezzin zum Gebet ruft, rennen sie los, so leise sie können. Schatten in der Dunkelheit, stolpernd, flüsternd, Hunderte vor Matheo, Hunderte hinter ihm, manche stolpern. Auf dem letzten halben Kilometer bis zur Grenze ist jeder auf sich gestellt. Matheo läuft direkt in den Wagen marokkanischer Polizisten hinein, der plötzlich an der Straße auftaucht. „Ich habe einen Stein genommen und ihn gegen die Windschutzscheibe geschleudert“, erinnert sich Matheo und schafft es unbehelligt bis zum Zaun. Die erste Drahtwand kippt leicht nach vorne, 15 Grad Neigung, da braucht es Muskeln und einen guten Halt. Die Flip-Flops rutschen weg am Metall. Matheo streift sie ab, steigt mit bloßen Zehen ins Gitter. Er zieht sich mit den Metallhaken, die an seine Handgelenke gebunden sind, hoch. Erst rechts, dann links, das dauert zu lang. Dann wirft auch die Haken weg, er muss schneller sein.

Selbst auf dem Zaun ist man noch nicht in Europa. Foto: EFE

Über Matheo rattern Hubschrauber, ihre Suchscheinwerfer tasten das Gelände ab. Jenseits des Zaun bellen die Hunde der spanischen Grenzbeamten. Matheo schiebt sich über die Stacheldrahtrolle, die Metallzacken bohren sich ins Fleisch. Schmerzen spürt er kaum, denn er hat nur eines im Kopf: den Sprung aus sechs Meter Höhe, der ihn zum Krüppel machen könnte.

Er stößt sich ab. Ein Sturz in die Tiefe, über ein dreidimensionales Drahtgeflecht hinweg, in dem sich Arme und Beine verfangen können, über den mittleren Zaun, drei Meter hoch. Matheo landet mit angebrochenem Knöchel auf dem Zwischenraum vor dem dritten Zaun. Seine Gebete sind erhört worden. Er muss nur noch krabbeln, auf allen Vieren zu dem Loch in die Freiheit keine drei Meter entfernt. Er quetscht sich durch ein weggebogenes Gitter, das die Männer vor ihm an der Schweißnaht eines Pfostens aufbrechen konnten. Ein Schieben und Zwängen, ein letzter Kraftakt und er ist in Spanien. Und mit ihm in dieser Nacht 495 andere Flüchtlinge, fast die Hälfte der Männer hat es geschafft.

Überall in Europa werden Bollwerke an Grenzen errichtet

Nicht nur Melilla und Ceuta ziehen Zäune hoch, überall in Europa werden Bollwerke errichtet, um die Unerwünschten abzuhalten. Zwischen der Türkei und Griechenland ist die Grenze teilweise vermint, selbst das ärmste EU-Land Bulgarien hat eine drei Meter hohe Mauer zur Türkei gebaut. Mit technisch immer aufwendigeren Überwachungssystemen wie dem satellitengestützten Eurosur wollen die Behörden den illegalen Einwanderern zuvorkommen. So sollen Boote aufgespürt werden schon bevor sie in See stechen.

Doch wo immer eine Route dicht gemacht wird, suchen sich die Flüchtlinge mit Hilfe von teuer bezahlten Schleppern eine neue, oft eine gefährlichere. Sie steuern zwischen Tankern hindurch über die Meerenge von Gibraltar oder halten Kurs auf die Kanaren oder sie wagen die Fahrt in überfüllten Booten übers Mittelmeer. Von Libyen oder Ägypten aus starten sie in Richtung Italien und Griechenland, sie sind oft tagelang in sengender Hitze unterwegs, viele ohne ausreichend Wasser. 1500 ertrinken dabei jedes Jahr, die Dunkelziffer nicht mitgerechnet.

Der Sprung über den Dreifachzaun kostet nichts

„Die Ärmsten, die sich nicht einmal ein Boot leisten können, landen am Zaun von Melilla“, sagt Jose Palazon und dreht sich eine Zigarette in einem Hafencafé. „Der Sprung kostet nichts.“ Alles an dem 59-Jährigen ist hager, fast abgezehrt, selbst die Kippe ist nur ein Strich. Vier, fünf Stunden Schlaf die Nacht reichen dem Menschenrechtsaktivisten, um aufzutanken, denn er hat viel zu tun neben seinem Broterwerb als Leiter einer Privatschule. Er ist der Fürsprecher der Flüchtlinge, vermittelt Anwälte, streitet mit den spanischen Behörden über den Abbau des Stacheldrahtes auf dem Zaun und kauft auch mal Medikamente. „Sie werden zu Kriminellen gemacht und genauso behandelt“, schimpft Jose Palazon und zückt sein Handy. Zu sehen sind wackelige Bilder von der Grenze, ein paar dunkel gekleidete Männer, die am Boden liegen und getreten werden von Uniformierten.

„Kein Einzelfall“, sagt Palazon, „es kommt zu Misshandlungen, immer wieder sterben Menschen.“ Zuletzt am 6. Februar in der benachbarten Exklave Ceuta, wo die Polizei Gummikugeln und Rauchgranaten eingesetzt hat. Etliche Flüchtlinge hätten versucht, eine Landzunge zu umschwimmen, die Marokko von Spanien trennt, 15 dabei ertrunken. „Es deutet einiges darauf hin, dass die Polizisten direkt auf die Schwimmenden geschossen haben“, prangert Palazon an, der mit seiner Hilfsorganisation Prodein regelmäßig versucht, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen und dabei selbst immer wieder angezeigt wird.

Fast die Hälfte der Flüchtlinge kommt aus Syrien

Die Welt ist nicht untergegangen. Wenn Matheo aus dem Fenster des Auffanglagers schaut, sieht er einen rostigen Zaun, der ihn schützen soll, und einen Golfplatz auf den Hügeln gleich nebenan, als wolle ihn Europa verhöhnen. In dem Lager, das für 480 Flüchtlinge ausgelegt ist, drängeln sich 1230 Menschen aus 33 Ländern, fast die Hälfte aus Syrien, viele aus Kamerun, Mali, dem Niger und Guinea. Gegessen wird im Mehrschichtbetrieb, weil die Kantine zu klein ist. Matheo hat ein Stockbett für sich, und wenn er beim Autowaschen genug Kleingeld verdient, kann er für einen Euro die Stunde den Laptop eines anderen Flüchtlings ausleihen und mit Freunden in Kamerun oder Fez chatten. „Ich habe den Kampf gewonnen“, sagt Matheo zufrieden, „auch wenn ich manchmal aufgeben wollte: Ich bin in Europa.“

Sechs Monate bleiben die Flüchtlinge im Schnitt im Lager, dann werden sie aufs Festland gebracht. Die Chancen für Matheo als Asylbewerber anerkannt zu werden, stünden schlecht, sagen Aktivisten wie Palazon. Die meisten Wirtschaftsflüchtlinge aus Kamerun tauchen in die Illegalität ab, haben eine Zukunft ohne Rechte vor sich. Sie landen als Arbeitssklaven in den Gewächshäusern von Almeria, schuften auf Baustellen oder enden, wenn sie noch mehr Pech haben, wieder in den Händen von Schmugglern. Für die Frauen bleibt die Prostitution, oft der billige Straßenstrich.

Matheo denkt nicht viel an das, was kommt. „In Europa wird alles gut“, sagt er und hat sich herausgeputzt für einen Spaziergang zum Strand. Goldkette, eine viel zu große schwarze Sonnenbrille, die krausen Locken abrasiert, bis auf einen Hahnenkamm. Der Brillant in seinem rechten Ohr ist aus Plastik, den himmelblauen Halbschuhen setzt der Staub zu. Er steht mit seinen Freunden vor dem Drehkreuz des Lagers, es ist früher Abend. Die Jungs wollen los, zum Sonnenuntergang ans Meer, die Promenade ruft, alles andere ist ihnen gerade egal.