Roald Amundsen hat vor 100 Jahren als erster Mensch den südlichsten Punkt der Antarktis erreicht. Bis heute wird er dafür gefeiert.

Stuttgart - Wie unterschiedlich Menschen doch sehen können, wenn sie dasselbe erblicken. "Gott hat einen schrecklichen Ort erschaffen", schrieb der britische Polarfahrer Robert Scott am 16.Februar 1912 in sein Tagebuch, "nichts ist hier zu sehen, nichts, was sich von der schauerlichen Eintönigkeit der letzten Tage unterschiede." Fünf Wochen davor hatte der Norweger Roald Amundsen dieselbe Eiswüste lyrisch besungen: "Ruhig, so ruhig, erstreckt sich das mächtige Plateau vor uns, noch nie gesehen und noch nie betreten von menschlichem Fuß." Was für Amundsen ein "Moment unleugbarer Ergriffenheit" war, war für Scott bitterste Enttäuschung: "All die Mühsal, all die Entbehrung, all die Qual - wofür?"

 

Denn am 14.Dezember 1911 hatten Amundsen und sein Team als erste Menschen den Südpol erreicht. Scott und seine Mannen hingegen mussten am Ziel erkennen, dass der Konkurrent ihnen zuvorgekommen war: da stand sein Zelt, da wehte die norwegische Fahne.

Als die Briten den Rückweg antraten, den keiner von ihnen überlebte, saßen die Norweger derweil auf dem Polarschiff Fram. Im tasmanischen Hobart hieß Amundsen seine Mitstreiter zunächst an Bord zu bleiben, bis er das kodierte Telegramm über die geglückte Expedition in die Heimat gefunkt hatte. Auch damals kannten die Entdecker den Wert der Publizität. Niemand sollte ihm mit seinen "News" die Show stehlen.

Roald Amundsen hat den Status eines Helden

Der Wettlauf zum Südpol ist unter die "Sternstunden der Menschheit" eingegangen und vermag auch hundert Jahre später zu faszinieren. Das damals unbetretene Land gleicht inzwischen einem US-Flughafen, sagt Liv Arnesen, die 1994 als erste Frau alleine und ohne Unterstützung zum Pol vordrang. 20 Jubiläumsexpeditionen ziehen dieser Tage durch die Eisberge, um zum Jahrestag den Zielort zu erreichen. Selbst Norwegens Premier Jens Stoltenberg will sich einfliegen lassen, um die letzten 20 Kilometer zum Südpol zu laufen. Die Feiern jedenfalls zeigen auf, dass Roald Amundsen für die Norweger ein Held ist.

Norwegen war ein kleines, armes Land, Jahrhundertelang von Dänen und Schweden regiert, "und seit den Wikingerkönigen hatte es keine Helden mehr gehabt", sagt der Historiker Per Egil Hegge. "Da haben die Polarfahrer das norwegische Selbstbild geprägt und vielleicht etwas überhöht."

Für Liv Arnesen bestimmte Amundsens Buch "Auf Schi zum Südpol" ihr weiteres Leben. "Ich war acht, ich las es, ich war verloren." Von da an wusste sie, dass sie es ihm nachmachen wollte, 33 Jahre später hatte sie sich ihren Traum erfüllt. Bis heute ist Amundsen Pflichtstoff an norwegischen Schulen, bis heute vermarktet sich das Land mit dessen Werten. "Naturverbundenheit, Abenteuerlust, Innovation gehören zu unserem Branding", sagt Eirik Bergesen, der im Außenministerium lange mit dem "Norwegenbild" arbeitete. Der Südpolheld verleiht auch heute noch Prestige.

"Mein neunjähriger Sohn hat einen Klassenkameraden, der Großneffe Amundsens ist", sagt Bergesen, "das gibt Street Credit, fast so, als wäre er der Sohn von Ole Gunnar Solskjúr", Norwegens größtem Fußballstar. Damals, anfangs des Jahrhunderts, waren die Polarhelden Idole. Amundsen sammelte 2400 Zuhörer, als er nach der Rückkehr vom Südpol seinen ersten Vortrag in Oslo hielt. Fridtjof Nansen, der Grönland durchquerte und sich dem Nordpol näherte, verdiente mit seinen Büchern so viel Geld, dass er auf sein Professorengehalt verzichten und enorme Mittel für humanitäre Hilfe verwenden konnte.

Die geplante Nordpol-Expedition führte in die Antarktis

Doch auch Amundsen war ein wichtiges Symbol für die junge Nation, sagt der Kultursoziologe Thomas Hylland Eriksen. "Er hat Scott geschlagen, den Vertreter eines Imperiums. Das war enorm bedeutsam für das Selbstbild." Die Eroberung des Südpols hat Strahlkraft bis heute. "Den Mann, der als erster am Südpol steht, wird man nie vergessen", sagt Liv Arnesen. Dabei war der Marsch zum südlichsten Punkt der Erde für Amundsen nur zweite Wahl.

Eigentlich wollte er als Erster den Nordpol erreichen, dafür hatte er von Nansen das Schiff Fram geliehen, dafür hatte er Sponsorengelder und königlichen Segen bekommen. Doch dann hatten die Amerikaner Robert Peary und Frederick Cook unabhängig voneinander behauptet, am nördlichsten Punkt der Erde gewesen zu sein, und Amundsen erkannte, dass ihm als möglichem Dritten wenig Ehre und Geld zufließen werde. Er wusste auch, dass Scott den Südpol anpeilte. Da plante er neu, ohne die Mannschaft zu informieren. Erst bei Testfahrten bei Madeira teilte er der Crew mit, dass man den Südpol ansteuern werde.

Eine Stunde bekamen die anderen, um nach Hause zu schreiben, dann legte die Fram Richtung Antarktis ab. Neun Monate bereiteten sie sich auf die Reise vor, am 20. Oktober 1911 verließen die Hundeschlitten das Lager. Nach 55 Tagen hatten sie es geschafft. "Herrlicher Sonnenschein und eine milde Brise", notierte Amundsen trotz 25 Minusgraden, "wir sprachen nicht viel, alle dachten das Gleiche." Waren sie die Ersten? Oder würden sie Zeichen sehen, dass Scott ihnen zuvorgekommen war?

Nichts! Sie hatten gewonnen. "Erlaube mir, Eure Majestät zu informieren, dass fünf Mann der Fram-Expedition, mich selbst eingeschlossen, nach einer erfolgreichen Schlittenfahrt gestern den Südpol erreicht haben", schrieb Amundsen am 15. Dezember 1911 an König Haakon. Er hinterließ das Papier in seinem Zelt. "Der nächste Mann hier wird es heimbringen." Beim toten Robert Scott fand man später den Brief.

Traumberuf Polarforscher

Biografie Roald Engelbregt Gravning Amundsen wurde am 16. Juli 1872 im norwegischen Frederikstad geboren. Seit 18. Juni 1928 gilt er als verschollen.

Ausbildung Nachdem er sein Medizinstudium abgebrochen hatte, um Polarforscher zu werden, war er von 1896 bis 1899 als Offizier der Belgica-Expedition mit dabei in der Antarktis. Im Jahr 1903 bis 1906 bezwang er mit der Gjøa als Erster die Nordwestpassage im Norden Kanadas. Nach seiner Entdeckung des Südpols ging er von 1918 bis 1920 auf große Fahrt mit der Maud durch die Nordostpassage von Norwegen nach Alaska.

Triumph Neben der legendären Entdeckung des Südpols erreicht er auch als vermutlich erster Mensch am 12. Mai 1926 mit dem Luftschiff Norge den Nordpol.