Das uralte Eis der Polargebiete kann Spannendes erzählen: über die Welt und das Klima längst vergangener Epochen. Zähe Wissenschaftler fördern die Geschichten mit Bohrern zu Tage – nicht nur im aktuellen Kinofilm „Zwischen Himmel und Eis“.

Stuttgart - Beißende Kälte, heulende Stürme und monatelange Dunkelheit. Widerspenstige Technik und eine nur 24 Quadratmeter große Hütte, die man sich zu dritt teilen muss. Als Claude Lorius 1956 an seiner ersten Antarktis-Expedition teilnimmt und einen Winter in der abgelegenen Forschungsstation Charcot verbringt, hat er sich nicht den einfachsten Start für eine Forscherkarriere ausgesucht. Doch der mittlerweile 83-jährige Franzose schwärmt bis heute davon. Bei 22 Expeditionen hat er mehr als zehn Jahre in den Polargebieten verbracht. Und noch immer scheint der langjährige Leiter des Labors für Glaziologie und Umwelt-Geophysik in Grenoble das Eis nicht sattzuhaben. Im aktuellen Kinofilm „Zwischen Himmel und Eis“ erzählt er, was ihn daran so fasziniert. Die Leidenschaft für die Antarktis sei wie ein Virus. Wer infiziert sei, müsse einfach immer wieder zurückkehren.

 

„Dieses Virus habe ich auch“, sagt Heinz Miller vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Er hat sich dem Forschungsfeld verschrieben, auf dem Claude Lorius seit den 60er Jahren Pionierarbeit geleistet hat: Als Glaziologe versucht er, das Eis der Polargebiete zum Sprechen bringen. Es hat schließlich eine Menge zu erzählen. Über Hunderttausende von Jahren hat sich in Grönland und der Antarktis eine Schneeschicht auf die andere gelagert, sich zu Eis verfestigt, Gasbläschen und Schwebteilchen aus der Luft eingeschlossen. Wie in einem gefrorenen Geschichtsbuch sind hier die Informationen über das Klima und die Atmosphäre vergangener Epochen aufgezeichnet. Um da heranzukommen, muss man allerdings tief ins Eis dieser globalen Gefriertruhen hineinbohren.

Heinz Miller war er einer der führenden Köpfe hinter dem europäischen Tiefbohrprojekt EPICA, das zwischen 1995 und 2006 zwei Bohrkerne aus dem Eis der Antarktis gefördert hat. „So ein Vorhaben kann man nur mit internationaler Zusammenarbeit stemmen“, betont der Forscher. „Und es dauert mindestens zehn Jahre, bis man fertig ist.“ Bei der EPICA-Bohrung im   antarktischen Dronning-Maud-Land mussten die Mitarbeiter zum Beispiel erst einmal fünf Südsommer lang das Gelände erkunden und Probebohrungen durchführen, bis sie eine geeignete Stelle gefunden hatten. Zwei weitere Sommer hat es dann gedauert, dort eine Forschungsstation aufzubauen und die nötige Ausrüstung heranzuschaffen. „Allein die Winde mit dem Kabel, über das der Bohrer in die Tiefe gelassen und mit Strom versorgt wird, wiegt drei Tonnen“, sagt Heinz Miller. Ein Lufttransport fällt da aus, Pistenraupen mussten das schwere Gerät von der Küste aus 800 Kilometer weit durch ein Gebiet mit tückischen Gletscherspalten ziehen.

Mit Überraschungen muss man in der Antarktis rechnen

Im November 2001 konnte es dann endlich losgehen. Meter um Meter schnitt sich der rotierende Bohrkopf mit seinen scharfen Messern in den Untergrund, Eiszylinder mit zehn Zentimetern Durchmesser und drei Meter Länge kamen aus immer größeren Tiefen nach oben. Vier Sommer lang ging es jeden Tag ein Stück weiter in die Vergangenheit. Wenn man Glück hatte. „In einer Saison wollten wir da weitermachen, wo wir im Jahr zuvor aufgehört hatten“, erinnert sich Heinz Miller. Doch der Bohrer kam aus unerfindlichen Gründen keinen Meter mehr voran.

Es dauerte Tage, bis die Forscher die Ursache des Problems gefunden hatten: Eine große Messingschraube war ins Bohrloch gefallen und dort im Weg gewesen. „Ich weiß bis heute nicht, wie das Ding da reingeraten ist“, sagt Miller. Doch mit solchen Überraschungen müsse man rechnen. Am Ende sind die Forscher bis in eine Tiefe von 2784 Metern vorgestoßen und haben 170 000 bis 180 000 Jahre altes Eis zu Tage gefördert. Bei der zweiten Bohrung des Projekts an der Station Dome C in der Ostantarktis reicht das gefrorene Geschichtsbuch sogar mehr als 800 000 Jahre zurück.

Dem Lesen seiner Seiten widmen sich die Forscher oft erst im heimischen Labor. So ein Eiskern kann zum Beispiel verraten, bei welchen Temperaturen der Schnee vergangener Epochen gefallen ist. Diese Information steckt unter anderem in den Bestandteilen des Wassers. Von Wasserstoff und Sauerstoff gibt es jeweils zwei unterschiedlich schwere Formen, die sogenannten Isotope. Eis aus warmen Zeiten enthält größere Mengen der schwereren Varianten als solches aus kalten Perioden.

Die Erkenntnis lag im eisgekühlten Whiskey

Eine weitere im Eis verborgene Botschaft perlte Claude Lorius in den 60er Jahren ausgerechnet aus einem Glas Whiskey entgegen. Er hatte seinen Drink mit Eis aus der aktuellen Bohrung gekühlt – und beobachtete nun die kleinen Luftbläschen, die von den schmelzenden Brocken aufstiegen. Waren sie nicht wie Zeitkapseln, die Proben aus einer uralten Atmosphäre bewahrt hatten? In den folgenden Jahrzehnten beschäftigte sich der Franzose intensiv mit der Analyse solcher Gasbläschen. So konnte er zeigen, dass hohe Konzentrationen von Kohlendioxid in der Erdgeschichte mit hohen Temperaturen gekoppelt waren. Der Treibhauseffekt ließ sich also in den Eiskernen nachweisen – und Lorius warnt vor den Folgen der hohen CO2-Emissionen.

Es ist nicht die einzige kritische Botschaft, die der Glaziologe von den Enden der Welt mitgebracht hat. „Es gibt keinen Ort auf der Erde, wo man vor dem Einfluss des Menschen sicher ist“, sagt er im Film. So finden sich in den Eiskernen nicht nur radioaktive Elemente aus Atomtests, sondern auch die Spuren anderer Umweltbelastungen. „Man sieht darin zum Beispiel, dass die Römer bei der Metallverhüttung noch mehr Blei freigesetzt haben als später der Autoverkehr“, berichtet Heinz Miller. Optimistisch stimmt ihn, dass sich auch der Erfolg von Umweltschutzmaßnahmen bereits niedergeschlagen hat: Den Rückgang der Bleibelastung nach der Einführung von bleifreiem Benzin haben sie ebenso dokumentiert wie die sinkende Konzentration von Schwefelverbindungen durch die Rauchgasentschwefelung in Kraftwerken und Müllverbrennungsanlagen.

Das Eis erzählt aber auch Geschichten, in denen der Mensch nicht die Hauptrolle spielt. Zum Beispiel darüber, wie die Welt in früheren Epochen ausgesehen hat. Enthält eine Schicht im Bohrkern viele Seesalzpartikel, ist das zum Beispiel ein Zeichen für eine große Ausdehnung des Meereises – und damit für eine Kaltzeit. „Gleichzeitig wurde in solchen Phasen auch 100- bis 1000-mal mehr Staub in die Antarktis getragen“, sagt Miller. Das deutet auf ein trockeneres Klima und mehr Wind hin.

„Aus all diesen Puzzleteilen versuchen wir, ein stimmiges Bild von den Klimaentwicklungen der Vergangenheit zusammenzusetzen“, sagt Frank Wilhelms vom AWI. So hoffen die Forscher, auch ihre Prognosen verbessern zu können. Dazu würden sie allerdings gern noch weiter zurückschauen, als es ihnen bei der EPICA-Bohrung von Dome C bereits gelungen ist. In den mehr als 800 000 Jahren, die der dort gewonnene Eiskern umfasst, hat die Erde acht Wechsel zwischen Kalt- und Warmzeiten erlebt. Bei Bohrungen in die Sedimente am Meeresgrund haben Wissenschaftler allerdings Hinweise darauf gefunden, dass sich das Klima davor in schnellerem Rhythmus gewandelt hat. „Aus dem Eis würden wir gern mehr darüber erfahren, was damals in der Atmosphäre vor sich ging“, erklärt Wilhelms. Doch dafür müssen die Bohrmannschaften erneut ausrücken. In drei oder vier Jahren soll es so weit sein.