Ein jüngst entdeckter 2,8 Millionen Jahre alter Unterkiefer und ein neu interpretiertes Fossil aus dem Archiv zeigen Anthropologen, dass die Gattung Homo deutlich älter ist als gedacht. Die Entwicklung der Frühmenschen spaltete sich damals in mehrere Linien auf.

Stuttgart - „Ich finde das sensationell!“ Als er diesen Satz sagt, schwingt die Begeisterung in der Stimme von Philipp Gunz vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig noch mit. Der Spezialist für die Köpfe von Frühmenschen hat in einer aufwendigen Sisyphusarbeit einen 1964 von Louis Leakey in Tansania entdeckten Fund analysiert. Dieser Homo habilis galt damals als frühestes Glied in der Ahnenreihe der Gattung Homo, zu der auch wir Menschen gehören. „Als wir mit Computerprogrammen den Unterkiefer dieses Fundes rekonstruierten, entpuppte sich dieser als viel urtümlicher als bisher vermutet“, erklärt Philipp Gunz.

 

Die Wurzeln unserer Gattung scheinen daher einige Hunderttausend Jahre weiter in der Vergangenheit zu liegen, als bisher vermutet, berichtet der Forscher im Wissenschaftsmagazin „Nature“. „Wir zogen auch Rückschlüsse, wie der Vorfahre dieses urtümlichen Menschen ausgehen haben könnte“, ergänzt sein EVA-Kollege Fred Spoor, der auch am University College in London forscht und der in Leipzig mit Philipp Gunz den Homo-habilis-Kopf unter die Computerlupe genommen hatte.

Von einem solchen Vorfahren des Homo habilis aber hatte bisher niemand eine Spur gefunden. „Fast wie auf Bestellung finden unsere Kollegen dann in Äthiopien neue Fossilien von einem Unterkiefer, die genau zu diesem Vorfahren passen könnten“, staunt Fred Spoor. Seine Kollegen Brian Villmoare von der University of Nevada in Las Vegas und William Kimbel von der Arizona State University berichten gemeinsam mit etlichen weiteren Forschern parallel zu den EVA-Forschern in der Online-Ausgabe des Fachjournals „Science“ über ihren Fund. Dieser Unterkiefer ist mit 2,75 bis 2,80 Millionen Jahren fast eine halbe Jahrmillion älter als der älteste bisher sicher der Gattung Homo zugeordnete Fund.

Die Frühmenschen lebten in einer Savanne

Damals war der Fundort in der Afar-Tiefebene Äthiopiens eine Savanne mit vielen Büschen und ein paar Wäldern an den Ufern der Flüsse. In der Nähe schwammen Fische in einem See und in einem Fluss, in denen sich auch noch Krokodile und Flusspferde tummelten. So stellen sich Frühmenschenforscher auch die Landschaft vor, in der die Vorfahren der Gattung Homo ihr Leben in den Bäumen aufgegeben haben. In einem solchen Grasland sollen sie sich zu Zweibeinern entwickelt haben, die als Dauerläufer in der Savanne nach Essbarem Ausschau hielten. In der Afar-Senke könnte sich dieser Schritt der Evolution vollzogen haben. Doch die Entwicklung war komplex, und die Forscher müssen verschiedene Linien voneinander trennen.

Aufschlussreich sind daher die in Äthiopien entdeckten Fossilien. Der Unterkiefer ähnelt nämlich dem berühmten Skelett von Lucy, das Anfang der 70er Jahre in der gleichen Region entdeckt wurde. Lucy aber lebte vor rund 3,2 Millionen Jahren und damit noch einmal 400 000 Jahre früher als der neue Fund. Lucy wiederum ordnen die Forscher als Australopithecus afarensis ein – sie gehört damit nicht nur nicht zur Art Homo sapiens, sondern auch nicht zur Gattung Homo. Die inzwischen ausgestorbene Gattung Australopithecus scheint von einem vor fünf oder sechs Millionen Jahren lebenden Urahnen abzustammen, aus dem auch die Schimpansen und Bonobos hervorgingen. Unsere Gattung Homo wiederum soll von Australopithecus abstammen.

Beim nun gefundenen Unterkiefer weisen die Zähne deutlich auf die Gattung Homo hin, finden Brian Villmoare und seine Kollegen. Die Forscher ordnen diese Fossilien daher der Gattung Homo zu, haben die Art aber noch nicht benannt. Sie könnten zum Beispiel zum Frühmenschen Homo habilis gehören. „Und auch zu den beiden anderen Homo-Linien Homo erectus und Homo rudolfensis, die vor rund zwei Millionen Jahren lebten“, meint Philipp Gunz. Der EVA-Forscher hat also allen Grund, von einer Sensation zu sprechen, auch wenn sie nicht gleich alle Fragen beantwortet. Möglich wurde dieser Vergleich des 2,8 Millionen Jahre alten Unterkiefers aus Äthiopien mit Homo habilis erst durch die Rekonstruktion der Fossilien aus Tansania, deren Unterkiefer kräftig verzogen war.

Es gibt noch eine weitere Überraschung: „Die Unterschiede zwischen den Linien Homo habilis, Homo rudolfensis und Homo erectus sind zum Teil so groß wie zwischen modernen Menschen und Schimpansen“, wundert sich Philipp Gunz. Vor rund zwei Millionen Jahren lebten in Ostafrikas also mindestens drei Linien der Gattung Homo gleichzeitig, deren Gesichter sich sehr deutlich voneinander unterschieden. Alle drei aber hatten relativ große Schädel, in denen jeweils ein Gehirn mit ungefähr 0,7 bis 0,8 Liter Volumen Platz fand. Das Denkorgan von Australopithecus war dagegen mit 0,4 bis allenfalls 0,55 Litern nur wenig größer als bei Schimpansen und Bonobos, während der moderne Mensch mit beinahe 1,4 Liter Gehirn aufwartet. Auch das Denkorgan hatte sich also damals schon auf den evolutionären Weg in die moderne Zeit gemacht.