Mit ausgeklügelten DNA-Analysemethoden haben Forscher ein winziges Knochenteil des Denisova-Urmenschen analysiert. Das Ergebnis lässt Rückschlüsse auf die Menschheit zu.

Stuttgart - Der winzige Knochen aus dem kleinen Finger eines Mädchens ist nicht einmal so groß wie der Fingernagel einer Frau. „Es ist fantastisch, dass die russischen Frühmenschenforscher bei ihren Ausgrabungen in der Denisova-Höhle im Altaigebirge weit im Süden Sibiriens dieses kleine Fragment gefunden und uns für weitere Untersuchungen überlassen haben“, sagt sich Matthias Meyer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig. Der Wissenschaftler forscht dort in der Abteilung Evolutionsgenetik in der Gruppe um Svante Pääbo, die in der Analyse des Erbgutes DNA aus Fossilien immer wieder bahnbrechende Ergebnisse veröffentlicht.

 

Der Fingerknochen aus Sibirien entpuppte sich dabei als großer Glücksfall, über den die EVA-Forscher gemeinsam mit Kollegen aus den USA, der Türkei, China und Russland jetzt in der Online-Ausgabe des Fachjournals „Science“ berichten: „Wir analysieren das viele Jahrtausende alte Erbgut darin so genau wie die DNA heute lebender Menschen“, erklärt Matthias Meyer begeistert. „Erstmals können wir einzelne Bereiche und Erbeigenschaften direkt miteinander vergleichen“, berichtet er weiter. Damit aber sind die EVA-Forscher den Unterschieden zwischen dem modernen Menschen und seinen nächsten Verwandten vom Neandertaler bis zum Denisova-Menschen auf der Spur.

Denisova-Mensch lebte zur Zeit des Neandertalers

Bisher waren Analysen von altem Erbgut viel weniger präzise. Ob ein veränderter Baustein der DNA tatsächlich einen Unterschied im Erbgut zeigte, oder ob er erst durch einen Fehler während der Analyse entstanden war, konnten die Forscher oft nicht zuverlässig feststellen. Der Vergleich des gesamten Denisova-Erbgutes mit heutigen Menschen zeigte den Forschern immerhin bereits 2010, dass sie den Fingerknochen einer bisher unbekannten Menschenlinie untersuchten.

Diese Denisova-Menschen lebten ungefähr zur gleichen Zeit wie Neandertaler und moderne Menschen sowie die kleinwüchsigen Flores-Menschen von der gleichnamigen Insel Indonesiens. Und sie sind die bisher einzige Gruppe längst ausgestorbener Menschen, die ausschließlich durch die Untersuchung ihres Erbguts entdeckt wurde. Bereits 2010 staunten die Forscher, wie sauber das aus dem Fingerknochen isolierte Erbgut war. Normalerweise siedeln sich auf solchen Überresten nämlich rasch Bakterien an. „Meist stammen 99 Prozent der isolierten DNA daher von solchen Mikroorganismen, dazu kommt oft noch Erbgut aus anderen Quellen“, berichtet Matthias Meyer. Entsprechend wenig Ausgangsmaterial halten die Forscher daher oft in Händen. „Der Fingerknochen des Denisova-Menschen enthielt dagegen ungefähr 70 Prozent DNA des verstorbenen Individuums“, beschreibt Meyer die ungewöhnliche Reinheit des Fundes.

Alte DNA viel genauer analysiert

Um diesen Glücksfall möglichst gut auszunutzen, entwickelten er und seine Kollegen eine neue Methode, mit der sie alte DNA deutlich genauer als bisher untersuchen können. Für diese Analysen vermehren die Forscher zunächst das wenige aus einem Knochen erhaltene Erbgut stark. DNA aber liegt normalerweise in Form von zwei Strängen vor, die sich wie eine Miniaturwendeltreppe umeinander winden und von denen ein Strang das Spiegelbild des anderen ist. Während bisherige Methoden bei der Vermehrung von einem solchen Doppelstrang ausgingen, trennten die Leipziger Forscher die DNA zunächst in die beiden einzelnen Stränge und vermehrten dann diese. „Damit aber hatten wir theoretisch doppelte Chancen“, erklärt Meyer.

Die so verbesserte Genauigkeit zahlte sich aus: Während bei der ersten Analyse mit der herkömmlichen Methode im Jahr 2010 jede Stelle im untersuchten Denisova-Erbgut laut Statistik 1,9-mal analysiert wurde, nahm die neue Methode jetzt jedes DNA-Stück gleich 31-mal unter die Lupe. Da jede einzelne DNA-Analyse einige wenige Fehler enthalten kann, bleiben bei der 1,9-maligen Untersuchung von rund drei Milliarden DNA-Bausteinen also noch viele Fehler übrig, während die 31-malige Untersuchung nahezu fehlerfrei ist.

Das so erhaltene Erbgut verglichen die Forscher mit der DNA von elf heute in verschiedenen Regionen der Erde lebenden Menschen. Ungefähr hunderttausend Bausteine entpuppten sich als verändert. Diese sogenannten Mutationen ereignen sich im Laufe der Zeit zwar zufällig, aber relativ regelmäßig. Zählen die Forscher daher die gesamten Mutationen, die sich im Vergleich mit einem gemeinsamen nahen Verwandten wie dem Schimpansen ereignet haben, finden sie beim Denisova-Menschen etwa 1,16 Prozent weniger Veränderungen als bei heutigen Zeitgenossen. Aus diesem Unterschied rechnen sie aus, dass die Besitzerin des untersuchten Fingerknochens vor rund 74 000 bis 82 000 Jahren lebte. Da die Denisova-Höhle in den letzten 125 000 Jahren immer wieder von Frühmenschen bewohnt wurde, stimmt dieser Zeitraum mit den Daten der Archäologen überein. Er ist die erste Altersbestimmung eines Fossils, die aus dessen Erbgut ermittelt wurde.

Sex mit anderen Urmenschen

Mit der genauen Erbgutanalyse zeigen die Forscher auch, dass Denisova-Menschen und andere Linien ab und zu auch Interesse füreinander zeigten. Das Ergebnis solcher Intimitäten waren Kinder, die sich später selbst wieder vermehrt haben. Die Spuren solcher Verhältnisse zeigen sich noch heute im Erbgut der Menschen in Papua-Neuguinea, deren DNA zu rund drei Prozent von Denisova-Menschen stammt. Bis zu den Aborigines in Australien und nach Polynesien lassen sich die Spuren dieser Menschenlinie verfolgen, in Europa aber finden sich kaum Hinweise auf sie. „Vermutlich haben die Denisova-Menschen daher nicht nur in Sibirien, sondern auch weiter im Süden von Asien gelebt“, erklärt Matthias Meyer dieses Ergebnis.

Aus dem Denisova-Erbgut können die Forscher auch ausrechnen, dass – ähnlich wie bei den Neandertalern – lange Zeit nur recht wenige Menschen dieser Linie auf der Erde lebten. Ob sie sich wirklich über den riesigen Osten Asiens verteilten, können die Forscher aber kaum aus dem Erbgut lesen. Vielleicht wanderten die Denisova-Menschen ja auch in wärmeren Epochen der damaligen Eiszeit nach Norden bis zur Denisova-Höhle, zogen sich aber weit nach Süden zurück, sobald die Kälte zurückkam.

Inzwischen sind erste Spekulationen aufgetaucht, ob nicht bestimmte, lange bekannte Frühmenschenfunde aus dieser Region ebenfalls Denisova-Menschen sind. Wenn unter diesen Knochen ein weiterer Glücksfall wie der Finger aus Sibirien wäre, könnten die Forscher bald neue spektakuläre Erbgutdaten aus dieser Zeit liefern.