Müssen Patienten zu Notdienstzeiten künftig bis zu 30 Kilometer fahren für ein Medikament – auch dann, wenn es ein echter Notfall ist? Mit einem Urteil bestätigt der EuGH, dass sich Versandapotheken aus dem Ausland nicht an die Preisbindung halten müssen. Ansässige Apotheker fühlen sich benachteiligt – und fürchten reihenweise Schließungen.

Klima und Nachhaltigkeit: Julia Bosch (jub)

Degerloch - Am Morgen nach den Weihnachtsferien herrscht in der Waldau-Apotheke in Degerloch Hochbetrieb: Viele haben sich beim Skiurlaub und den kalten Temperaturen erkältet, andere brauchen Arzneimittel für chronische Erkrankungen. Der Leiter der Waldau-Apotheke, Konstantinos Pitsioras, steht mit am Verkaufstisch und berät die Kunden. Das Geschäft läuft gut, trotzdem hat der Degerlocher Apotheker Sorgen: wegen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).

 

Im vergangenen Oktober entschied der EuGH, dass sich Versandapotheken aus dem europäischen Ausland wie etwa die niederländische Kette DocMorris nicht an die für deutsche Apotheken geltende Preisbindung halten müssen. Sie dürfen sogar zusätzliche Rabatte auf verschreibungspflichtige Medikamente geben. „Das ist einfach nicht fair“, sagt Pitsioras.

„Jeden Tag schließen in Deutschland Apotheken“

Das Urteil führe dazu, dass viele Menschen bei verschiedenen ausländischen Online-Apotheken die Preise vergleichen und bei jener Versandapotheke das Arzneimittel bestellen, die es am billigsten anbietet. Zugleich dürften deutsche Apotheken aufgrund der Preisbindung keine Preisnachlässe gewähren.

„Wir ansässige Apotheken zahlen unsere Steuern in Deutschland, schaffen Arbeitsplätze und – der wohl wichtigste Punkt – gewährleisten Notdienste an jedem Tag und in jeder Nacht im Jahr“, sagt Konstantinos Pitsioras. Durch die wachsende Anzahl und Nachfrage an Versandapotheken gehe den örtlichen Apothekern das Geschäft verloren. „Jeden Tag schließen in Deutschland Apotheken.“

„Es wird mit zweierlei Maß gemessen“, meint Leonie Dierfeld, die Leiterin der Garben-Apotheke in Plieningen. „Wir können gar nicht die Rabatte geben, die holländische Versandapotheken anbieten.“ Das EuGH-Urteil gewährleiste keinen fairen Wettbewerb. Wenn weiterhin so viele Apotheken aufgrund der ausländischen Konkurrenz schließen, müssten in naher Zukunft Menschen zu Notdienstzeiten bis zu 30 Kilometer weit fahren – auch dann, wenn es sich um einen echten Notfall handle.

Wer online bestellt, erfährt nicht, welche Medikamente sich nicht miteinander vertragen

„Wir werden durch das EuGH-Urteil einen großen Wandel im Apothekenwesen erwarten müssen“, sagt auch Marit Konnerth, die die Spitzweg-Apotheke in Degerloch leitet. Bei ihr sei es bereits häufiger vorgekommen, dass Patienten sie nach Rabatten fragten, wie sie bei ausländischen Apotheken die Regel seien. „Die Patienten wollen uns damit teilweise regelrecht erpressen.“

Für die ansässigen Apotheken bliebe durch diese Entwicklung nur noch die arbeitsintensive Seite des Berufs – wie Nacht- und Feiertagsdienst, intensive Beratung ohne nachfolgenden Verkauf sowie die Herstellung komplizierter Rezepturen. „Mit den daraus resultierenden Umsätzen können viele Apotheker bald weder Mieten noch Gehälter bezahlen“, warnt Konnerth.

Den Apothekern gehe es nicht nur um ihre eigene Zukunft, sondern auch um das Wohl der Patienten: „Bei Versandapotheken sagt einem keiner, dass sich einige Medikamente nicht miteinander vertragen“, warnt Pitsioras. Außerdem gingen Kunden, die online bestellten, das Risiko ein, dass die Medikamente Temperaturen zwischen minus 20 Grad im Winter und bis zu 40 Grad im Sommer ausgesetzt seien.

„Wir hoffen, dass der derzeitigen Praxis ein Riegel vorgeschoben wird“

Hans-Peter Knödler von der Forum-Apotheke in Sillenbuch hält den Versandhandel mit Medikamenten generell für fraglich: „In fast allen europäischen Ländern ist das verboten, Deutschland ist die große Ausnahme“, sagt er. Die Patienten könnten nie sicher wissen, ob ihre Medikamente noch in Ordnung seien, wenn sie bei ihnen ankommen. Für besonders ungerecht hält er es, dass Krankenkassen schon jetzt Verbände darum bäten, ihre Kunden, die an chronischen Krankheiten wie Diabetes oder Asthma leiden, anzuschreiben und dazu aufzufordern, bei Versandapotheken im Ausland ihre Medikamente zu bestellen.

Klaus-Stephan Stelzer, der Leiter der Fortuna-Apotheke in Degerloch, teilt die Ansicht seiner Kollegen: „Die deutschen Standortapotheken können mit Rabatten und Boni auf Rezept überhaupt nicht konkurrieren“, sagt er. Dadurch würden viele Betriebe unrentabel und müssten schließen. „Dass es Politiker gibt, die dies nicht sehen wollen, ist mir unverständlich.“

Noch haben die Apotheker einen kleinen Hoffnungsschimmer: Der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) bereitet derzeit ein Gesetz vor, das den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten verbieten soll. „Wir hoffen, dass der derzeitigen Praxis ein Riegel vorgeschoben wird“, sagt die Plieninger Apothekerin Leonie Dierfeld. Doch allzu optimistisch klingt sie nicht – so wie all ihre Kollegen.