Verursacht die digitale Arbeitswelt eine höhere Zahl von erschöpften und kranken Beschäftigten im Land? Eine Studie will dies klären

Stuttgart - Genau genommen ist es paradox: In fast allen Branchen hat sich die Arbeit in den letzten Jahrzehnten verändert: Sie ist angenehmer, sicherer geworden. Es gibt ein Anrecht auf Pausen. Keiner muss mehr an sechs Tagen in der Woche schuften. Computer und weitere digitale Gerätschaften verhelfen zum angenehmeren Arbeiten. Baden-Württemberg ist da geradezu mustergültig: Hier ist die Digitalisierung der Unternehmen weiter vorangeschritten als in anderen Bundesländern. Und mehr als jeder zweite Beschäftigte kann sich seine Arbeitszeit flexibel einteilen. Im Bundesdurchschnitt gilt das nur für 43,9 Prozent. Das geht aus einer Studie der Schweizer Universität St. Gallen hervor, die nun von der Landesvertretung der Barmer GEK zusammen mit der Deutschen Telekom vorgelegt wurde.

 

Und doch fühlen sich Arbeitnehmer von E-Mail-Fluten und zunehmender Computerarbeit gestresst, überfordert, gereizt und ausgelaugt. Gerade in Baden-Württemberg lässt sich die emotionale Erschöpfung zu mindestens 15 Prozent auf diese zunehmenden Anforderungen im Berufsalltag zurückführen. Auch das hat die Studie gezeigt, für die mehr als 8000 Beschäftigte in Deutschland befragt wurden. Weitere Nebenwirkungen sind laut der Untersuchung Schlafstörungen, Kopf- und Rückenschmerzen.

Digitalisierung mit Nebenwirkungen

„Die Digitalisierung bietet viele Chancen, aber falsch betrieben führt sie zu gesundheitlichen Risiken, denen Unternehmen und Arbeitnehmer entgegensteuern sollten“, sagt daher Jürgen Rothmaier, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Barmer.

Es ist nicht die erste Untersuchung, mit der Forscher zeigen wollen, dass die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt nicht unerhebliche gesundheitliche Folgen mit sich bringt. Zuletzt hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund eine Studie veröffentlicht, nach der die Digitalisierung der Arbeitswelt bei fast der Hälfte aller Beschäftigten mehr Stress verursacht. Weshalb sich immer mehr die Frage stellen, ob das Internet nicht mehr Fluch denn ein Segen ist.

Fragt man Experten, winken diese ab: „Kein seriöser Arzt kann jetzt schon sagen, ob das Internet einen dümmer oder kränker macht“, sagt etwa Jan Kalbitzer, der an der Charité in Berlin zu den Auswirkungen des Internets auf die Psyche forscht. Seiner Meinung nach sind es nicht E-Mails, Smartphones und Co. die den Menschen krank machen. Vielmehr muss jeder für sich einen reflektierten Umgang mit dem Internet finden.

Kein enger Zusammenhang

Das bestätigt in gewissem Sinne auch die Schweizer Studie: Dieser zufolge lässt sich nur ein geringer Zusammenhang zwischen dem Grad der Digitalisierung und der Zahl der Krankheitstage feststellen. Für Baden-Württemberg weist die Studie maximal neun Krankheitstage pro Jahr in den fertigungstechnischen Berufen aus, noch weniger sind es in der IT- und naturwissenschaftlichen Branche. Dabei sind das doch die Bereiche, in denen die Digitalisierung am weitesten vorangeschritten ist.

Die Schweizer Forscher machen dafür die Rahmenbedingungen mitverantwortlich. So scheinen Beschäftigte, die ihre Arbeitszeit flexibel gestalten können, in der Freizeit auf Diensthandys verzichten, regelmäßig Sport treiben und einen festen Rückhalt in der Firma sowie in der Familie haben, mit E-Mail-Fluten und zunehmender Computerarbeit besser klarzukommen. Vielleicht halten sich die Beschäftigten auch mehr an den Rat des Soziologen Hartmut Rosa von der Uni Jena: „Wer sich reich an Zeit fühlen möchte, sollte hin und wieder einen Tag verschwenden, nichts planen und nichts Produktives tun.“