Wie haben die Polynesier auf der Osterinsel vor Jahrhunderten die tonnenschweren Statuen viele Kilometer transportiert? Amerikanische Wissenschaftler haben eine neue Theorie: Sie ließen die Figuren laufen. Nötig waren nur Helfer und ein paar Seile.

Rapa Nui/Stuttgart - Carl Lipo versteht es, seine Forschungsergebnisse publikumswirksam in Szene zu setzen. Vor fünf Monaten hat die Wissenschaftszeitschrift „Nature“ ein Video des US-Anthropologen auf Youtube eingestellt. Nach elf Tagen zählte das Filmchen bereits 100 000 Aufrufe; inzwischen sind es mehr als 300 000.

 

Die knapp zwei Minuten lange Sequenz ist in der Tat faszinierend. Sie zeigt eine riesige Steinfigur, die langsam einen leicht abschüssigen Schotterweg entlanghumpelt. Lipos Mitarbeiter haben an ihrem Kopf Seile befestigt, mit denen sie die Statue unter rhythmischen Rufen hin und her schaukeln. Eine andere Gruppe verhindert derweil mit einem dritten Seil, dass der Koloss auf den Bauch fällt. Die Figur, die dort über den Boden Hawaiis wandert, ist die maßstabsgerechte Nachbildung eines Moai – so heißen die berühmten Steinfiguren auf der Osterinsel, rund 3500 Kilometer vor der chilenischen Küste. Mehr als vier Tonnen wiegt die Replik, und sie soll einer These Gewicht verleihen, mit der Lipo und seine Kollegen inzwischen weltweit Aufsehen erregen: Die Moai seien nicht liegend transportiert worden, sondern aufrecht stehend – so ähnlich, wie man bei einem Umzug den Kühlschrank an die richtige Stelle in der Küche ruckelt.

Viele Kilometer von der „Werkstatt“ zum Ziel

Die Moai bestehen aus vulkanischem Tuffgestein. Die Einwohner von Rapa Nui (so lautet der polynesische Name der Osterinsel) stellten sie in einem Krater im Südosten der Insel her. Sie arbeiteten die Figuren mit scharfen Basaltbeilen aus dem weichen Tuff heraus. Zwischen 1000 und 1500 nach Christus entstanden auf Rapa Nui etwa 900 Statuen. Die fertigen Kolosse brachten die Insulaner oft viele Kilometer bis zu ihrem Ziel.

Wie sie das schafften, ist bis heute ein Rätsel. Die Figuren waren bis zu zehn Meter hoch; die schwersten wogen mehr als achtzig Tonnen. Vielleicht ist die Lösung tatsächlich so einfach, wie Carl Lipo in seinem Video zeigt und zusammen mit seinen Kollegen Terry Hunt und Sergio Rapu Haoa im „Journal of Archeological Science“ vorstellt. Auf der Osterinsel gibt es ein altes Wegenetz, das vermutlich unter anderem dem Transport der steinernen Riesen diente. Entlang dieser Wege finden sich mehr als 60 Statuen. Lipo vermutet, dass sie beim Transport gestürzt waren und nicht mehr aufgerichtet werden konnten.

Diese gestürzten Kolosse weisen Lipo zufolge allesamt eine Besonderheit auf, die der Wissenschaft bisher entgangen sei: Sie haben eine schiefe Basis. Dadurch lehnten sie stark nach vorne. Sie konnten nicht ohne Hilfe stehen; sie wären auf ihre charakteristische Nase gefallen. Erst am endgültigen Ziel wurde diese Basis augenscheinlich so bearbeitet, dass sie flach wurde und die Kolosse auf Steinplattformen, den sogenannten Ahu, aufgestellt werden konnten.

Vorwärtsschaukeln wie einen Kühlschrank beim Umzug

Lipos Transportidee funktioniert nur wegen dieses kleinen Unterschieds zwischen Transport- und endgültiger Form. Denn durch die vorgebeugte Haltung der Moai war es ein Einfaches, die Figuren auf der Kante zwischen Basis und Bauch hin- und herzuschaukeln – genauso, als würde man den Kühlschrank schräg stellen, um ihn leichter durch die Küche ruckeln zu können. Anders als ein Kühlschrank hatten die Steinbildnisse zudem einen runden Bauch. Die Kante, auf der sie lehnten, war wie die Kufe eines Schaukelstuhls geformt. Das habe es noch leichter gemacht, die Statuen hin- und herzuschaukeln.

Für diese Theorie sprechen mündliche Überlieferungen der Insulaner, nach denen die Moai laufen konnten. Lipo und Kollegen waren nicht die Ersten, die den Figuren den aufrechten Gang beibringen wollten. Der norwegische Anthropologe Thor Heyerdahl war Ende der 1980er Jahre auf eine ähnliche Idee verfallen. Er hatte seine Versuche aber anders als Lipo durchgeführt – mit durchwachsenem Erfolg.

„Am Ziel kommt nur der halbe Körper an“

Mit ihrer Transportform hätte es dagegen funktionieren können, sind Lipo und seine Kollegen überzeugt. Manche Kenner der Materie sehen das jedoch anders. „Für die Theorie spricht nicht mehr als für viele andere Hypothesen, weil echte Beweise für Lipos Annahmen einfach fehlen“, sagt etwa Andreas Mieth von der Universität Kiel, der seit vielen Jahren auf der Osterinsel forscht. Dass das Experiment im Youtube-Film mit einer Betonfigur durchgeführt wurde, hält Mieth für einen methodischen Schnitzer. Das Material der Originale sei wesentlich fragiler.

Noch deutlicher wird Gerardo Velasco, promovierter Ingenieur und ehemaliger Direktor des Verbandes für Wirtschaftsförderung auf Rapa Nui. „Die Studie von Lipo und seinen Kollegen ist in meinen Augen fast eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand“, sagt er. „Wenn Sie einen Zehn-Tonnen-Moai aus weichem vulkanischem Tuff über eine Distanz von zehn Kilometern oder mehr wandern lassen, kommt am Ziel nur noch der halbe Körper an. Für Einheimische ist diese Vorstellung geradezu lächerlich.“

Mieth gesteht den US-Forschern immerhin zu, sich interessante Gedanken zu machen. Was ihm allerdings gar nicht gefällt, ist das Bild, das die US-Anthropologen von der Geschichte des Eilands zeichnen.

Die große Umweltkatastrophe

Als die ersten Polynesier in Rapa Nui anlandeten, nach Meinung der meisten Forscher gegen 800 nach Christus, war die Insel von Palmenwäldern bedeckt. Zwischen 1250 und 1550 nach Christus verschwanden diese nahezu vollständig. Manche Forscher vermuten, dass der Statuenkult für diesen Verlust mit verantwortlich war. Denn zum Transport der steinernen Riesen sei jede Menge Holz nötig gewesen – etwa für hölzerne Schlitten oder Rollen.

Carl Lipo und seine Kollegen bezweifeln das. Für den Transport der Moai habe man lediglich Seile gebraucht; Bäume dagegen nur wenige, wenn überhaupt, schreiben sie. Der Vegetationswandel ist aus ihrer Sicht nur zum Teil auf die Nutzung der Inselressourcen durch die Menschen zurückzuführen. Zwar hätten die Insulaner den Wald gerodet, um Ackerflächen zu gewinnen, aber ebenso schuldig seien die mitgebrachten Ratten gewesen. Diese hätten die Nüsse der Palmen gefressen und so ein Nachwachsen der Bäume verhindert. Der Ökosystemforscher Mieth hält das für ausgemachten Unsinn. „Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Ratten zum Untergang des Waldes beigetragen haben“, sagt er. „Nach unseren Forschungsergebnissen ist es sicher, dass allein der Mensch für den Vegetationswandel verantwortlich war.“

Die Frage nach dem Schuldigen ist auch deshalb so brisant, weil die Osterinsel lange Zeit als Paradebeispiel für einen menschgemachten ökologischen Super-GAU diente. Auf dem abgelegenen Eiland lebten einst wohl mehrere Tausend Menschen. 1877 waren es nach einer amtlichen Zählung nur noch 110. Dass der Raubbau an der Natur dafür verantwortlich war, bezweifeln heute jedoch viele Wissenschaftler. So auch Andreas Mieth: „Inzwischen steht eindeutig fest, dass es nach dem Verschwinden der Wälder nicht zum Kollaps der Osterinsel-Kultur kam“, betont er. „Die Lebensbedingungen sind vielleicht härter geworden; die Bewohner haben sich jedoch durch neue Anbaumethoden angepasst.“

Für die Siedler fatal war wohl der Kontakt zu den Europäern. Nach der Entdeckung 1722 brachten spätere Besucher Krankheiten mit, versklavten die Bevölkerung, töteten Führungsschicht, Priester und Lehrer. Für den Bevölkerungsrückgang tragen wohl sie die Verantwortung.

Die Osterinsel

Rapa Nui
Die Osterinsel (polynesisch: Rapa Nui) gilt als eine der abgelegensten Inseln des Pazifiks. Das nächste bewohnte Eiland ist das mehr als 2000 Kilometer entfernte Pitcairn mit seinen 45 Siedlern. Bis zur Küste Chiles sind es rund 3500 Kilometer.

Entdeckung
Vermutlich um 800 nach Christus herum wurde Rapa Nui von polynesischen Seefahrern besiedelt. Am 10. April 1722, dem Ostersonntag, sichtete eine niederländische Expedition die Insel; der Kapitän Jacob Roggeveen gab ihr den Namen Paasch Eyland (Osterinsel).

Statuen
Berühmt ist die Osterinsel vor allem durch ihre Statuen aus vulkanischem Tuffstein. Die größte, El Gigante, misst 21 Meter und wiegt rund 270 Tonnen. El Gigante wurde niemals transportiert. Er liegt in der sogenannten Moai-Fabrik am Vulkankrater Rano Raraku, wo die meisten Moai hergestellt wurden.

Niedergang
Mit dem Niedergang der Osterinsel-Kultur im 18. und 19. Jahrhundert ging das Wissen um die einzigartige Lebensweise auf dem abgelegenen Eiland größtenteils verloren. Daher gibt die Insel der Wissenschaft heute noch viele ungeklärte Fragen auf.