Kurz nachdem die Menschen der Steinzeit Südamerika besiedelten, lebten sie auch schon in 4500 Meter Höhe in den Bergen. Knochen und Werkzeuge unter einem Felsüberhang zeugen davon. Dort fanden die Steinzeitjäger etwas, das es an der Küste nicht gab.

Stuttgart - Graffiti an den Wänden und schwarze Spuren von Ruß an der Decke zeigen klar: unter diesem Felsenüberhang haben sich Menschen einige Zeit aufgehalten. Sie rasteten zunächst oder suchten Schutz vor Gewittern und richteten sich später anscheinend häuslich ein. Nichts Besonderes, die Jäger der Steinzeit hinterließen in vielen Gegenden der Welt ähnliche Spuren. Auch mit einem Alter von 12 400 Jahren ist der Cuncaicha-Felsüberhang keineswegs rekordverdächtig. Wohl aber mit der Wohnlage, die einen tollen Blick über eine schöne Graslandschaft bietet: Die Jäger lebten 4480 Metern über dem Meeresspiegel in den peruanischen Hoch-anden. Der Archäologe Kurt Rademaker von der Universität Tübingen und seine Kollegen beschreiben im Wissenschaftsmagazin „Science“ also die höchstgelegene bekannte Siedlung dieser Zeit.

 

Die ältesten belegten menschlichen Spuren in Südamerika sind 14 000 Jahre alt. Bereits 2000 Jahre danach hatten die Menschen demnach schon die Hochlagen der Anden erobert. Bisher hatte sich niemand so recht vorstellen können, dass Jäger und Sammler die widrigen Bedingungen in dieser Höhe so früh gemeistert haben könnten: Mit jedem Atemzug pumpt ein Mensch dort nicht einmal 60 Prozent des lebensnotwendigen Sauerstoffs in seine Lungen, die er am Strand des Pazifiks einatmen würde. Um in diesen Höhen zu überleben, muss er doppelt so viele Kalorien schlucken wie ein Fischer am Meer. Die Sonne brennt kräftig, und die Jäger bekommen viel mehr ultraviolette Strahlung ab als in tieferen Lagen. Auch wenn der Cuncaicha-Felsüberhang in den Tropen liegt, bleibt es in dieser Höhe kühl, und in der Trockenzeit von April bis November gibt es in klaren Nächten sogar Frost. Bäume wachsen dort oben keine, Brennholz für ein Lagerfeuer ist also knapp.

Wie kamen die Jäger auf die Idee, in diese Höhen zu wandern? Der Grund könnte Obsidian sein – ein glasartiges Gestein, das entsteht, wenn die Lava aus einem Vulkanausbruch schnell abkühlt. Bruchstücke dieses Obsidians haben scharfe Kanten und waren in der Steinzeit begehrte Klingen für Werkzeuge und Jagdwaffen. In der Siedlung Quebrada Jaguay an der Pazifikküste des heutigen Peru verwendeten die Fischer der Steinzeit bereits vor 13 000 bis 10 000 Jahren dieses Vulkanglas. Obsidian aber kommt dort unten nirgends natürlich vor, erst 150 Kilometer entfernt und mehr als 4000 Meter höher fanden die Steinzeitmenschen und die Forscher um Kurt Rademaker gleichermaßen den wertvollen Rohstoff im 4355 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Pucuncho-Becken.

Später wurden aus Jägern Hirten, die Lamas züchteten

260 offensichtlich von Menschen bearbeitete Obsidian-Bruchstücke und jede Menge Abfall fanden die Forscher dort in einer Steinzeitwerkstatt unter freiem Himmel. Vor 12 800 bis 11 500 Jahren waren die Handwerker dort zugange, zeigen naturwissenschaftliche Analysen. Gerade einmal sieben Kilometer östlich davon entdeckt Kurt Rademaker eine weitere Open-Air-Obsidian-Steinzeitfabrik, die 4445 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Dort finden die Forscher mehr als 500 Steinzeitwerkzeuge und die Wohnung der Handwerker im Cuncaicha-Felsüberhang ganz in der Nähe in 4480 Meter Höhe. Die Felswände dort schützten die Steinzeitmenschen vor den meist aus Westen kommenden Winden und Regenfällen. In drei Labors ließen die Forscher etliche Male das Alter von großen, dort gefundenen Tierknochen bestimmen. Die Ergebnisse zeigen, dass dort vor rund 12 000 Jahren Menschen gelebt haben.

Die Jäger fanden in den Hochtälern der Anden nicht nur Obsidian, sondern auch ein kleines Paradies: Im März bekamen die Vicuñas, die in großen Höhen lebenden wilden Verwandten von Lamas und Alpacas, ihren Nachwuchs, später zogen größere Gruppen dieser Tiere durch die grasbewachsenen Täler. Kurt Rademaker und seine Kollegen fanden viele Knochen dieser Tiere in der Nähe des Cuncaicha-Felsüberhangs. Mit einem weiteren Kamelverwandten, dem Guanaco, sowie dem Nordandenhirsch brutzelte das Fleisch weiterer Arten über den Feuern in den Steinzeitsiedlungen der Hochanden, schließen die Forscher aus den Knochen dieser Arten. Später wurden aus den Jägern Hirten, die vorher gejagte Arten zähmten und als Lamas und Alpacas züchteten. Herden mit einigen Tausend Nutztieren weiden jedenfalls noch heute im Pucuncho-Becken.