Mit mehreren tausend Wohnungen für die Ärmsten in Lateinamerika hat sich Alejandro Aravena einen Namen gemacht. Seine Wahl zum Biennale-Direktor ist daher ein klares Signal.

Stuttgart - Mitten in der Wüste steht eine Frau auf einer Leiter und blickt in die Landschaft. Dieses Foto der deutschen Archäologin Maria Reiche, aufgenommen einst von dem britischen Schriftsteller Bruce Chatwin, ist Erkennungszeichen und Leitmotiv der am Wochenende startenden 15. Architektur-Biennale in Venedig. Alejandro Aravena, der die alle zwei Jahre stattfindende, weltgrößte Architekturschau diesmal leitet, geht es mit der Fotografie um die Demonstration eines Perspektivwechsels: Chatwin habe die Forscherin auf einer Südamerikareise getroffen. Die Alu-Leiter, die sie über der Schulter trug, diente ihr zur Erkundung der altperuanischen Nazca-Linien, denn nur von einem erhöhten Standpunkt aus war zu erkennen, dass das scheinbar zufällige Kreuz und Quer der Linien im Wüstensand gigantische Bilder ergab: Vogel, Blume, Baum, Mann, Hund.

 

Für Aravena symbolisiert die Aufnahme darum eine perfekte Lowtech-, Low-Budget-Problemlösung: „Maria Reiche hatte nicht das Geld, sich ein Flugzeug für ihre Studien zu mieten. Aber sie war kreativ genug, einen Weg zu finden, um ihr Ziel zu erreichen. Diese einfache Leiter ist der Beweis, dass wir nicht schwierigen Bedingungen die Schuld geben sollten, wenn wir unfähig sind, unseren Job zu tun. Wenn es an etwas fehlt, ist Erfindungsgeist gefragt.“

Mit Mangelsituationen kennt der Biennale-Chef sich aus. Bekannt geworden ist der 48-Jährige 2004 mit seinem sozialen Wohnungsbauprojekt Quinta Monroy im chilenischen Iquique. Damals entstanden in zentraler städtischer Lage vom Staat finanzierte Wohnbauten für hundert Familien. Da das Geld – 7500 Dollar pro Wohneinheit – aber hinten und vorn nicht reichte, planten die Architekten eben nur halbe Häuser, die dann von den Bewohnern nach und nach mit eigenen Mitteln und nach eigenen Vorstellungen weiter ausgebaut und vervollständigt werden konnten. Keine ganz neue Idee, aber so elegant wie Aravena hatte sie nach Meinung vieler Fachleute nur selten einer umgesetzt. Seit dem Erfolg dieses „inkrementellen“, schrittweisen Bauens gilt der Chilene jedenfalls als Pionier der partizipativen Architektur, die vielen mittellosen Menschen in Lateinamerika zu einem festen Dach über dem Kopf verhilft. Bis heute hat seine Firma Elemental in Santiago, die er gern als „Do Tank“ bezeichnet, mehr als 2500 Wohnungen für Arme geschaffen.

Edle Gesinnung vs. Innovation

Aravenas Ernennung zum Biennale-Direktor war daher ein klares Signal des Präsidiums: Nach den vergangenen Ausstellungen, zumal der von Rem Koolhaas geleiteten 2014, die sich auf die „Fundamentals“, die Grundlagen der Architektur, besann, steht in Venedig nun eindeutig die soziale Seite des Bauens im Fokus. Angesichts von Flüchtlingsströmen, Bevölkerungswachstum, Armut, Umweltkatastrophen, Slums eine richtige Entscheidung – sollte man meinen. Aber als Aravena kurz nach seiner Biennale-Investitur auch noch den Pritzkerpreis erhielt, platzte einigen Berufskollegen der Kragen. So schimpfte Patrik Schumacher, Büropartner der im März verstorbenen Londoner Stararchitektin und Pritzkerpreisträgerin Zaha Hadid, auf Facebook, dass diese als Architekturnobelpreis eingestufte Ehrung heute nur mehr für politische Correctness vergeben werde: „Der Pritzkerpreis mutiert zu einer Auszeichnung für humanitäre Arbeit.“ Edle Gesinnung ersetze heute zunehmend architektonische Innovation, wobei Schumacher die Wahl des Preisträgers 2016 als symptomatisch für ein schlechtes Gewissen der Disziplin insgesamt und einen Vertrauensverlust in Bezug auf ihre genuinen Potenziale betrachtet. Ähnlich reagierten viele Leser des Online-Portals Baunetz.

Mal abgesehen davon, dass Aravena selbst genügend Starattribute mitbringt, um als solcher durchzugehen – internationale Projekte, mediale Präsenz, kosmopolitischer Lifestyle, bizarre Frisur – die Götterdämmerung im Architekten-Olymp hat nicht erst mit der Verleihung des Pritzker-Lorbeers an den Chilenen begonnen. In die gleiche Richtung – weg von eitlen Prestigebauten – wiesen schon Preisträger wie der Japaner Shigeru Ban oder der im vergangenen Jahr postum geehrte Stuttgarter Frei Otto. Aravena selbst zuckt die Schultern zu der Kollegenschelte. „Wir Architekten wollten künstlerische Freiheit, aber der Preis, den wir als Disziplin dafür bezahlen, ist Irrelevanz.“ Das sagte er schon auf der Biennale von 2008, die ihr Motto „Architecture beyond building“ mit einer Flut von extravaganten Kunststücken der großen Namen des Gewerbes illustrierte. Ausgerechnet in jenem Jahr gewann er, einigermaßen zu seiner Überraschung und seinem Unbehagen, den Silbernen Biennale-Löwen als aufstrebender Architekt mit dem vielversprechendsten Werk.

Zwei Fragen an 88 Büros

Sein eigenes Motto lautet nun „Reporting from the front“. Dass der Titel im Deutschen so martialisch nach Kriegsberichterstattung klingt, irritiert ihn. Architektur könne eine Kampfzone sein, das ja, und exakt davon, der harten, oft gegen immense Widerstände durchgeboxten praktischen Arbeit, sollen die Beiträge seiner Biennale künden. Dazu hat Aravena 88 internationale Büros nach Venedig eingeladen, darunter auch die Stuttgarter Ingenieurbüros Transsolar und Werner Sobek, und ihnen jeweils zwei Fragen gestellt: 1. Welches vordringliche Problem wollen Sie mit Ihrem Beitrag angehen? 2. Wie sieht Ihr Lösungsvorschlag aus? Aravena folgt damit seiner Überzeugung, dass man in seiner Profession erst einmal die richtigen Fragen stellen müsse, bevor man vorschnell mit fertigen, aber falschen Antworten aufwarte.

Diese Strategie, mutmaßt das Fachmagazin „Bauwelt“ in seiner aktuellen Ausgabe, könnte eine ziemlich chaotische Biennale ergeben – im Gegensatz zu der konzeptuell durchkomponierten Schau von Aravenas Vorgänger Koolhaas. Kuratorisch ist der Chilene unerfahren, ein Ausstellungs-Greenhorn. Aber das Wohlgeordnete muss ja nicht unbedingt immer das Ansprechendste, Spannendste, Relevanteste sein. Um es in des Direktors eigenen Worten auszudrücken: „Wir würden uns wünschen, dass die Biennale 2016 einen neuen Blickwinkel eröffnet, wie den, den Maria Reiche von ihrer Leiter aus hatte. Die Architektur muss heute auf komplexe und vielfältige Herausforderungen Antworten geben. ‚Reporting from the Front‘ will denen eine Stimme geben, die bereits eine neue Perspektive entwickelt haben und deshalb in der Lage sind, etwas von ihrem Wissen, ihren Erfahrungen und ihrem Erfindungsgeist mit denen zu teilen, die auf dem Boden stehen.“