Schmuckstücke oder Schandflecke – Planer entscheiden darüber, wie Plätze, Quartiere oder Straßenzüge aussehen. Wir stellen Beispiele moderner Stadtgestaltung in der Region vor. Heute: Das Hengstenbergareal und die neue Weststadt in Esslingen.

Esslingen - Die Stadt dehnt sich aus. Esslingen will nicht mehr einen undefinierten Beginn haben, will nicht mehr in eine halb marode Industrielandschaft hinausdämmern, wie sie der alte Güterbahnhof war – mit Zeichen des Verfalls. Esslingen baut deshalb eine neue Stadtkante und will damit sagen: „Hier, das sind wir Bürger, stolz auf unsere Altstadt, stolz auf unsere Hightechfirmen.“

 

Dies auszugestalten ist der architektonische Auftrag des Projekts Neue Weststadt. Ein riesiges Baufeld, zwölf Hektar an der Bahnlinie, die sieben Blocks mit Innenhöfen umfassen, sowie die Pädagogische Fakultät der Hochschule. Dazwischen liegt ein zentraler Platz. Im weiteren Sinne gehört auf der Nordseite des Rossneckars das Areal der Firma Hengstenberg dazu, bebaut mit der Volkshochschule und mit Studentenwohnheimen.

Planerische Kehrtwende

Wolfgang Schwinge, 68, hat sich das Viertel angesehen. Schwinge machte sich als Planer von Pattonville in Kornwestheim und in Langenau bei Ulm einen Namen, ebenso als Professor an der Universität Stuttgart. Er sitzt zwischen Investoren und Architekten und kann beide Seiten verstehen. Ihm ist klar, dass man mit dem neuen Gebäude der Südwestmetall am westlichen Ende des Hengstenberg-Areals einen Stadteingang schaffen wollte. Er selbst hätte ihn ein paar Stockwerke größer gemacht. Aber natürlich – das liege im Ermessen des Architekten, sagt er.

Eine stadtplanerische Kehrtwende soll die Neue Weststadt sein. Sie soll die Gewässer Esslingens, die zu Industriekanälen verkommen waren, wieder erlebbar machen. Ein neuer Biergarten wartet am Ufer des Rossneckars auf den Sommer. Vom Wasser herauf reflektiert Licht auf die Fassade des Studentenwohnheims, die aussieht wie ein Lochstreifen, Fenster/Tür, Fenster/Tür, Fenster/Tür. Immer das gleiche Bild. „Man kann auch ein Studentenwohnheim etwas liebevoller machen“, sagt Schwinge milde. „Aber Sie müssen sehen: Ein Student kann nur Miete zahlen, wenn ein Dreier davorsteht. Es gibt eben zwei Spieler, wenn es um Architektur geht: den Kunden und den Investor. Und der Investor kann immer abhauen und mit seinem Geld etwas anderes machen.“ Zerstört also die Ökonomie das menschliche Maß in der Architektur und zwingt zu gesichtslosen Städten? „Stadt“, doziert Wolfgang Schwinge, „war schon immer ein Wirtschaftsort.“

Die Vorschriften beeinträchtigen die Gestaltung

Eine Brücke verbindet die Ufer des Rossneckars. Schwinge schaut skeptisch durch die Scheiben des Studentenwohnheims im Erdgeschoss: „Hoffentlich haben sie hier so etwas wie Gemeinschaftsräume geplant und öffnen die unteren Geschosse.“ Das sei entscheidend für die Belebung eines Platzes. Hinter der Volkshochschule befindet sich die Außenanlage eines Kindergartens. Ein Stück Rollrasen liegt auf dem Dach der Tiefgarage, ein Metallzaun grenzt ab. „Das ist hilflos“, sagt Schwinge. Hilflos ist auch das Wort, das er für den eisernen Zaun findet, der den Lichtschacht der Tiefgarage umstellt. „Wir müssen alles einzäunen“ kommentiert er, „weil es wegen allem 20 000 Vorschriften gibt.“

Am südlichen Teil der Neuen Weststadt steht noch nichts, allein eine Bodenplatte ist gesetzt. Hier ist hochwertige Architektur geplant, in den Untergeschossen soll es Gewerbe geben und Gastronomie. Für Schwinge gehört Gastronomie allerdings in ein Mietshaus. Klar, wer gehobene Architektur schaffe, wolle auch eine gehobene Gastronomie haben. Aber gerade darin sieht Schwinge ein Dilemma: „Es soll ein tolles Restaurant werden, aber möglichst nach 22 Uhr soll Schluss sein wegen der Ruhestörungen.“

Nachdem der Güterbahnhof abgerissen worden war, wurde die alte Kante der Stadt aus dem 19. Jahrhundert wieder sichtbar. Diese Bauten waren Kathedralen der Arbeit, bewusst wurden sie in backsteinernem Neoklassizismus gebaut mit riesigen Fenstern, die aber nicht allein als Schmuck dienten, denn Kunstlicht kostete Geld.

Was der Dick-Schornstein erzählt

Friedrich Dick, der Gründer der Feilenfabrik, zeigte die Wertigkeit seines Betriebs, einfach indem er seinen Namen auf den Schornstein und auf den Eingang schrieb. Früher warb ein Unternehmer mit seiner Firma, nicht mit dem Produkt, dass er herstellte. Dick wollte zeigen, wie modern, wie potent sein Betrieb war. Erst viel später begann man, mit einem Bild des Produkts zu werben, und heute steht allein ein Logo für Produkte und Betrieb, ein abstraktes Zeichen in einer abstrakten Welt.

Damals mussten die Arbeiter vom Land in die Stadt ziehen, wie sonst hätten sie die Fabriken erreichen können. Aber warum will heute der Burladinger nach Stuttgart, der Stuttgarter nach Berlin, der Berliner nach New York? „Eine Stadt bietet Anonymität an“, sagt Schwinge, und das sei wichtig, wenn man vom Land komme und aus den Strukturen dort ausbrechen wolle. Dazu gehöre eben eine urbane Lebensweise.

„Eine Stadt braucht Städter“, sagt Schwinge bündig. Erst wenn die Menschen in eine Lebensphase kämen, in der sie Schutz bräuchten und Vertrautheit, etwa in der Familienphase, ziehe es sie wieder aufs Land. Die Neue Weststadt wird sich bewähren müssen, das Konzept muss gut sein. Aber, mal anders gefragt, was ist ein schlechtes Konzept? „Beispielsweise rund um das Milaneo in Stuttgart“, erklärt Schwinge. Die Einkaufsmeile stehe am Ende einer langen Strecke von Banken, die unbelebt seien. Das Milaneo hätte am Ende einer Kneipenstraße stehen sollen, findet er. Für die Weststadt ist es die Belebtheit der Querstraßen, die Öffnung der Erdgeschosse, die das Leben nach außen transportieren. „Die einzelnen Häuser müssen lesbar sein, die Körnung muss stimmen“, sagt Schwinge, dann werde der Stadtteil gut. Im übernächsten Jahr soll der erste Block der Weststadt stehen, dann wird sich zeigen, ob die Esslinger ihr eigenes Maß, ihre eigene Körnung gefunden haben.

Die neue Kante der Stadt

Experte
Wolfgang Schwinge (68) ist seit 1977 Gesellschafter des Büros für Städteplanung Orplan mit Sitz in Stuttgart. Orplan ist vorwiegend im süddeutschen Raum tätig, besonders in Baden-Württemberg. Schwinge war zudem Honorarprofessor an der Universität Stuttgart, er lehrte dort Theorie des Städtebaus.

Quartier
Die Neue Weststadt ist mit ihren mehr als zwölf Hektar das bedeutendste Stadtentwicklungsprojekt Esslingens. Dort entsteht in den kommenden Jahren ein urbanes Quartier mit mehr als 600 Wohnungen in Kombination mit Arbeitsplätzen, Nahversorgung, Grünflächen am Rossneckar und einem Quartiersplatz. Die Stadt Esslingen strebt die CO 2 -Neutralität des Quartiers an. uls