Der Fall eines verschwundenen Demonstranten entwickelt sich mitten im argentinischen Wahlkampf zur Staatsaffäre. Und zu einem unkalkulierbaren Brandbeschleuniger für indigene Proteste in der Region.

Buenos Aires - Jeden Morgen wiederholt sich das traurige Ritual: Am Gebäude des Ministeriums für Justiz und Menschenrechte – nur einen Steinwurf vom Präsidentenpalast entfernt – haben Unterstützer große Kalenderblätter angebracht. Und an jedem Tag, an dem Santiago Maldonado weiter verschwunden bleibt, kleben sie einen Sticker über das aktuelle Datum: „Donde esta Santiago Maldonado?“, steht darauf zu lesen. Es ist die Frage, die vor den mit Spannung erwarteten Parlamentswahlen am Sonntag ganz Argentinien bewegt: „Wo ist Santiago Maldonado?“

 

Der bis dato völlig unbekannte Aussteiger ist seit dem 1. August spurlos verschwunden. Wenige Tage nach seinem 28. Geburtstag nahm der Tätowierer und Kunsthandwerker an einer Demonstration der Mapuche in der Provinz Chuput teil. Der Protest richtete sich unter anderem gegen die italienische Familie Benetton, die bereits vor zehn Jahren riesige Ländereien in dem südamerikanischen Land kaufte. Als Wertanlage und zur Viehzucht, heißt es aus Reihen der Besitzer. Die Mapuche, Ureinwohner, die vor allem in Argentinien und Chile leben, fordern das Land zurück. Der Verkauf sei unrechtmäßig geschehen und über ihren Kopf hinweg erfolgt. Lateinamerikas Ureinwohner haben auch mehr als 500 Jahre nach der Entdeckung der Neuen Welt in nahezu allen Regionen Amerikas kaum Mitspracherecht, wenn es um ihre Territorien geht.

Inzwischen ist das Bild des bärtigen Argentiniers zum Symbol der Suche geworden

Santiago Maldonado, selbst kein Angehöriger der Mapuche, sondern aus einer bürgerlichen Familie aus der Provinz Buenos Aires, hat sich dem Protest angeschlossen. „Er hat sich immer als Anarchist definiert“, sagt Bruder Sergio. Er habe die Rechte der indigenen Ureinwohner Argentiniens verteidigen wollen, sich aber nicht selbst politisch aktiv engagiert. „Er hat der Politik und den Politikern misstraut“, sagt Sergio. Vor allem sei er kein Mitglied der militanten Mapuche-Bewegung RAM, denen die Behörden Attentate in Chile und Argentinien vorwerfen und deren Anhänger gegenüber Benetton eine klare Linie fahren: „Das ist indigenes Land“, rufen sie in Protestaktionen.

Inzwischen ist das Bild des bärtigen Argentiniers mit Vollbart und voller Mähne zum Symbol der Suche geworden. Vor allem junge Argentinier solidarisieren sich mit Maldonado. Immer wieder kommt es in Buenos Aires zu großen Demonstrationen rund um die Plaza de Mayo, wo Argentiniens politischer Herzschlag besonders laut und auch sichtbar pocht. Ob er immer Volkes Stimmung widerspiegelt, steht auf einem anderen Blatt. Hier ist die Frage nach Santiago Maldonado mit Graffiti auf Häuserwände gesprüht. Auch am Gitter vor der Kathedrale von Buenos Aires, einst Heimat von Papst Franziskus vor seiner Wahl zum Kirchenoberhaupt, kleben Plakate mit der einen sich immer wiederholenden Frage: „Wo ist Santiago Maldonado?“ Auf dem Absperrgitter vor dem Präsidentenpalast hat ein Sprayer sein Urteil schon gefällt: „Maldonado – Opfer des Staatsterrorismus.“

Der Fall ist zum Politikum geworden

Die Polizei hatte am 1. August die Pro-Mapuche-Demonstration gewaltsam aufgelöst. In den Wirren danach ist Maldonado verschwunden. Die Polizei wies alle Vorwürfe zurück, dass Beamte etwas mit dem Verschwinden zu tun haben könnten, doch Videoclips und widersprüchliche Aussagen lassen die Sicherheitskräfte in keinem guten Licht erscheinen. In der Nacht zum Mittwoch fanden die Behörden eine Leiche im Fluss Chuput unweit des Ortes, in dem Maldonado zuletzt gesehen wurde. Familienangehörige warnten allerdings vor voreiligen Schlüssen: Es sei zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich, die Identität als auch die Todesursache des gefundenen Toten zu klären.

Der Fall ist zum Politikum geworden. Zu frisch sind die Erinnerungen an die dunkle Zeit der Militärdiktatur, als vor rund 40 Jahren Tausende Menschen ermordet wurden oder verschwanden. Auch damals war es Polizei oder Armee, die eine tragende Rolle bei der brutalen Gewalt gegen die Opposition spielte. Viele Argentinier haben das noch immer nicht vergessen. Der Fall Santiago Maldonado reißt diese Wunden wieder auf. Im Herzen von Buenos Aires gibt es eine Gedenkstätte, die an die Opfer erinnert. Inzwischen haben Aktivisten dort auch ein Foto von Santiago Maldonado aufgehängt.

Der Präsident hat die emotionale Wirkung des Falles unterschätzt

Argentiniens Präsident Mauricio Macri hat vor allem die emotionale Wirkung des Falles auf sein Volk lange maßlos unterschätzt. Zuerst zeigte Macri sich desinteressiert an dem Fall, erst als zahlreiche Nichtregierungsorganisationen ihn persönlich in die Verantwortung nahmen, erkannte der Präsident die Brisanz des Falles. Inzwischen hat er die Suche nach Santiago Maldonado intensivieren lassen. Sollte sich die nach den derzeitigen Indizien wahrscheinlichere Variante bestätigen, dass Santiago Maldonado ein Opfer von Polizeigewalt geworden wäre, wird das dem Ansehen Macris schaden. Umso wichtiger wäre eine rückhaltlose Aufklärung des Falles.

Schon jetzt rückt eine Allianz von peronistischen Kräften um die ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner, die ein politisches Comeback im Senat anstrebt, und Nichtregierungsorganisationen, die traditionell vom Kirchner-Lager finanziell unterstützt werden, Macri in die Nähe einer Militärdiktatur. Mit der Realität hat das allerdings nichts zu tun. Von venezolanischen Verhältnissen mit wild um sich schießenden Polizisten und regierungsnahen paramilitärischen Banden ist Argentinien weit entfernt.

Auch unter Kirchners Regierungszeit wurden die Mapuche unterdrückt

Umfragen zeigen, dass Cristina Kirchner nicht von dem Fall profitiert, obwohl sie sich als Sprecherin der Bewegung zu inszenieren versuchte, die nach Maldonado sucht. Doch auch unter Kirchners Regierungszeit wurden die Mapuche unterdrückt, ihre eigene Familie hat sich riesige Ländereien in Patagonien gesichert – Hotelanlagen inklusive. Weil die Umfragen schlecht stehen, zweifelt die ehemalige Präsidentin die Transparenz der Wahlen an. Trotzdem wird es wohl zu einem Sitz im Senat reichen, doch ihr bürgerlich-konservativer Nachfolger Macri darf auf eine Stärkung seiner Position hoffen. Die Argentinier trauen ihm zu, das heruntergewirtschaftete Land auf Kurs zu bringen. Auch wenn ihm bislang keine wesentlichen Erfolge in der Armutsbekämpfung gelungen sind, die er selbst zum Gradmesser für eine Präsidentschaft erhob.

Die Suche nach Maldonado geht derweil weiter und ist eine Art Volksbewegung geworden, in die sich auch argentinische Fußball-Legenden wie Diego Maradona eingeschaltet haben. Und der Fall bringt vor allem den bislang kaum beachteten Kampf der indigenen Völker in der Region um die Wahrung ihrer Rechte in den Fokus. „Wir sind Opfer einer strukturellen Unterdrückung“, sagt Nestor Jerez, einer der Sprecher der indigenen Bewegung. In Argentinien, aber auch in Chile wächst die Wut der Ureinwohner auf die Regierungen. Und mit der Wut kommt die Radikalisierung. Brennende Kirchen wie in Chile in den vergangenen Wochen, die immer wieder das Ziel der Attacken wurden, sind da erst der Anfang. Der Fall Santiago Maldonado könnte unabhängig vom Ausgang der Wahlen am Sonntag zum Brandbeschleuniger für eine ganze Region werden.