Ein Fünftel der Stuttgarter ist armutsgefährdet – gemessen am gesellschaftlichen Umfeld. Bei den Langzeitarbeitslosen bewegt sich wenig. Ein wachsendes Problem ist außerdem die Armut im Alter.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Die Wirtschaft in Stuttgart brummt. Doch es gibt in der Stadt viele tausend Menschen, an denen der Wohlstand vorbei geht. Am Sonntag startet die Vesperkirche in der Leonhardskirche, die den Fokus auf die Armen in Stuttgart richtet. Eines ist schon jetzt sicher: die Vesperkirche muss sich auch diesmal nicht über mangelnden Zuspruch sorgen.

 

„Ich habe das Gefühl, dass Armut in Stuttgart eher zu- als abnimmt“, sagt der Sozialdiakon der Evangelischen Gesellschaft, Peter Mayer. Als Leiter der Stadtmission ist er unter anderem für „Evas Tisch“ zuständig, einem ganzjährigen Mittagstisch für sozial Schwache. „Wir kommen an unsere Grenzen“, sagt Mayer. Die Besucherzahlen stiegen. Sie würden das Angebot – bis auf eine zweiwöchige Schließzeit – während der Vesperkirche auch nicht herunterfahren.

Die Schere geht auseinander

„Armut heute hat auch etwas mit dem Gefühl zu tun, nicht dazu zu gehören“, sagt der Sozialdiakon. Tatsächlich geht die soziale Schere in Stuttgart weit auseinander. Gemessen am Durchschnittseinkommen in der jeweiligen Großstadt ist die Armutsgefährdungsquote in keiner anderen Großstadt größer ist als in Stuttgart. Sie liegt laut Statistischem Landesamt bei 20,4 Prozent, in Dortmund nur bei 14 Prozent. Wobei der Wert in Stuttgart deshalb so hoch ist, weil es so vielen Menschen besonders gut geht. Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Nimmt man das bundesweite Durchschnittseinkommen, schneidet Stuttgart besser ab, dann liegt die Armutsgefährdungsquote bei 15,2 Prozent, in Dortmund bei 25 Prozent. Die Frage ist nur, womit man sich eher vergleicht: mit dem eigenen Umfeld oder dem Bundesdurchschnitt.

Auch bei der Caritas weist man darauf hin, dass ein signifikanter Teil der Bevölkerung in Stuttgart inzwischen abgehängt ist. „Es gibt einen Sockel an Langzeitarbeitslosen – das sind Personen, die kommen da auch nicht mehr raus“, sagt der Bereichsleiter Arbeit bei der Caritas, Edgar Heimerdinger. Laut dem Stuttgarter Jobccenter ist die Zahl der sogenannten Bedarfsgemeinschaften, die von Hartz IV leben, tatsächlich im Jahresvergleich stabil. „Die Konjunkturlage kommt nicht unbedingt bei den SGB II-Leistungsberechtigten an“, so der Jobcenter-Sprecher Christopher Haag. Aktuell bezögen 39 497 Stuttgarter, die in 21 535 Bedarfsgemeinschaften leben, Hartz IV, darunter seien 10 552 Kinder unter 15 Jahren. Die Bonuscard haben noch weit mehr, nämlich 66 000 Stuttgarter.

Situation in der Notübernachtung ist angespannt

„Es gibt immer mehr Menschen in der Stadtgesellschaft, die man als arm bezeichnen muss“, sagt auch der Sozialamtsleiter Stefan Spatz. Ein Beispiel ist die Winternotübernachtung. Vor fünf Jahren reichten 59 Plätze, nun seien es 89 Plätze, aufgeteilt auf drei Unterkünfte. Für die nächste Wintersaison plane man, zusätzlich zur Hauptunterkunft in der Hauptstätter Straße eine weitere große Notübernachtung mit 50 Plätzen einzurichten. „Wir haben eine sehr angespannte Situation“, sagt Spatz.

Ein weiteres Beispiel: die Zahl der Fürsorgeunterkünfte sei im vergangenen Jahr gestiegen, aktuell lebten 1121 Personen nach einer Räumung in solch einer Unterkunft. „Es gibt mehr Menschen, denen gekündigt wird, weil sie in finanzieller Not sind“, sagt Spatz. Insgesamt gibt es 3501 Plätzen in der Wohnungsnotfallhilfe.

Die Altersarmut steigt

Drittes Beispiel: die Altersarmut. Immer mehr Menschen reicht ihre Rente nicht aus. Bei Menschen ab 65 Jahren sei die Zahl der Empfänger von Grundsicherung im Alter und Hilfe zum Lebensunterhalt zwischen 2009 und 2013 um 15 Prozent angestiegen. Das Problem: oft schämten sich die Menschen. Spatz spricht von einer „Armut im Verborgenen“. Über die 34 Begegnungsstätten für Senioren versuche man, die Betroffenen zu erreichen.

Dazu passt eine Geschichte, die Peter Mayer erzählt. Vergangenes Jahr habe er eine gut gekleidete Dame angesprochen, sie könne gerne bei Evas Tisch essen, nur eben für den regulären Preis. Die Frau zeigte ihre Bonuscard und sagte, dass sie am Essen spare, um sich Kleidung zu leisten. Damit man ihr die Armut nicht ansieht.