In die Kreativwerkstatt Amos kommen Menschen, die soziale Einrichtungen normalerweise meiden. Hier können sie ihre Probleme künstlerisch verarbeiten. Einer von ihnen ist Marius Arcalean aus Rumänien, der seit vier Jahren auf der Straße lebt.

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Stuttgart - Das Mädchen auf dem Bild hat etwas Sorgenvolles, die Stirn ist angespannt und der Blick ernst. Marius Ioan Arcalean wischt mit der Handkante über die Kohlestriche auf der Leinwand, klopft den Farbstaub an der dunkelroten Fleecejacke ab und geht ein paar Schritte zurück, vielleicht, weil er das Ganze von etwas weiter weg besser beurteilen kann. „Meine Tochter“, sagt Arcalean. Er malt sie als junge Frau mit blauen Augen und hellbraunen, langen Haaren und klaren Gesichtszügen, obwohl er sie seit acht Jahren nicht mehr gesehen hat und sie damals noch ein Kind war.

„Man kann sehen, dass Marius in den Bildern seine Vergangenheit verarbeitet“, sagt Andrzej Estko, ein großer Mann mit beigem Strickpulli, grau-grüner Weste und schwarzer Baskenmütze. „Die zurückhaltenden Farben, die dunklen, verwischten Kohlestriche, die grauen Mauern und Gebäude, die das Mädchengesicht umgeben, fast so, als wollten sie es einschließen.“ Estko ist so etwas wie der künstlerische Leiter der Kreativwerkstatt Amos in der Stuttgarter Olgastraße. Er hat Kunst studiert und scheint die Geschichten hinter den Bildern hier genau zu kennen.

Arcalean, schwarzer Bart, Brille, grau-weiße Mütze, legt den Pinsel auf die Staffelei. Die Konzentration lasse nach, sagt er. Es zieht ihn nach draußen, hinters Haus, da hat er vorher seine Bierflasche abgestellt. „Nur zwei Minuten“, sagt er entschuldigend, sein Deutsch klingt weich, aber manchmal fehlen ihm Worte. Seit er keinen Job mehr hat, seit er auf der Straße lebt, ist die Bierflasche sein ständiger Begleiter. „Wichtiger als Brot.“

Elf Jahre lang war Arcalean im Einsatz in Afghanistan, das hat ihn traumatisiert, sagt er

Vor acht Jahren ist Marius Arcalean von Rumänien nach Baden-Württemberg gekommen, weil er raus wollte aus seiner Heimat, weil es ihm dort nicht gut ging, keiner ihm mit seinen psychischen Problemen helfen konnte. Ein paar Jahre lang hat er in Stuttgart als Lastwagenfahrer gearbeitet, schwarz, den Führerschein hatte er früher bei der Armee gemacht.

Als ihn die Firma von einem Tag auf den anderen nicht mehr als Fahrer beschäftigen wollte, landete Arcalean auf der Straße, weil er keine Papiere hatte und damit auch keinerlei Ansprüche auf Sozialhilfe. Seit vier Jahren schlägt er sich nun durch, jedenfalls erzählt er das alles so, aber vielleicht ist ihm das Gefühl für Zeit und Ereignisse auch ein bisschen abhandengekommen, irgendwo zwischen der Ankunft hier in Deutschland und der Obdachlosigkeit.

Arcalean spricht nicht gerne über seine Vergangenheit, und wenn, dann sind da nur vage Erinnerungsfetzen, Bruchstücke. Afghanistan habe ihn traumatisiert, sagt er, elf Jahre im Einsatz für die rumänische Armee, die Bomben, die Angst, die Toten am Straßenrand. Fragt man nach, was er genau dort gemacht habe, was er genau erlebt habe, dann weicht er aus oder verliert sich in abstrakten Gedanken über das Leben an sich. Das Wichtigste sei die Liebe, sagt er, und der Respekt für andere Menschen, aber viele ließen sich anmerken, dass sie einen wie ihn als minderwertig betrachteten. In der Kreativwerkstatt Amos sei das anders, hier nehme ihn jeder so, wie er sei. Fragt man weiter, nach seiner Familie, der Zeit nach dem Armeeeinsatz in Afghanistan, sagt er, er könne seiner Frau und Tochter ja nichts mehr bieten. „Ich komme zu Amos, um zu vergessen“, sagt er, das Malen helfe ihm dabei, Deutschland helfe ihm dabei.

Zweimal in der Woche kommen Menschen in die Kreativwerkstatt Amos

Amos, das war ein biblischer Prophet, der sich im 8. Jahrhundert vor Christus gegen die Unterdrückung der Armen einsetzte. Nur wenige Stuttgarter wissen, was sich hinter dem Stuttgarter Projekt Amos verbirgt, aber unter denen, für die das Projekt gemacht ist, spricht sich die Idee herum. Zweimal in der Woche kommen Menschen dorthin, die vielleicht sonst keinen Ort haben, an dem sie kreativ sein können. Etwa zwölf sind es an diesem Nachmittag, um die 30 zählen zum regelmäßigen Besucherkreis. Es sind Menschen, die Unterstützung brauchen oder Kontakt suchen, so heißt es zumindest offiziell. Das Wort Armut benutzt niemand hier, schließlich soll jeder mitmachen können und keiner sich stigmatisiert fühlen.

Die Kreativwerkstatt, das ist ein großer, heller Raum mit hohen Decken und knarzendem Parkett im ersten Stock eines alten Gründerzeithauses. Rechts der Eingangstür stehen Tische mit Kisten voller Farbtuben, daneben Pinselgläser, Leinwände. In einer Ecke ein paar Sofas, in der Mitte des Raums lange Tischreihen, auf denen die Leute ihre Leinwände auf Holzgestellen platziert haben. Es ist ruhig an diesem Nachmittag, Andrzej Estko spielt über einen Laptop klassische Musik ab, Mozart, schließlich brauche man zum Malen Konzentration. In einer Ecke des Raumes unterhalten sich zwei weißhaarige Herren mit Brillen und sanftem Lächeln auf Persisch über die Bilder, an denen sie arbeiten, am Nebentisch versucht sich eine Frau an einem Stillleben mit einer Blumenvase.

Entstanden ist Amos vor mehr als zehn Jahren aus einer Initiative des Caritasverbandes für Stuttgart und zweier Kirchengemeinden, damals noch unter einem anderen Namen. „Es gibt viel versteckte Armut“, sagt Monika Fischer-Koch, die das Projekt damals als Mitarbeiterin der Caritas mitbegründet hat und sich heute ehrenamtlich dafür engagiert. Viele Menschen, vor allem ältere, die in finanzieller oder seelischer Not steckten, seien verschämt und über die sozialen Dienste gar nicht erreichbar.

Irgendjemand hat sogar mal ein Bild für 1500 Euro verkauft, darauf sind sie alle hier stolz

Hier, bei Amos, fragt keiner nach, warum jemand kommt, ob jemand nicht genug Geld hat, um sich Leinwände und Farben zu kaufen, oder einfach nur Gesellschaft will. Der Hintergrund spielt keine Rolle, das schätzen alle hier. „Amos ist eine Art Selbsthilfegruppe und Malen das Medium“, sagt Monika Fischer-Koch. Eine zwanglose Anlaufstelle, ein tagesstrukturierendes Element. Und ein Ort, an dem man auch mal Fragen stellen kann oder Rat suchen – dafür gibt es Monika Fischer-Koch.

„Manche sprechen hier über ihre Sorgen“, sagt Andrzej Estko, „andere malen nur.“ Manche Menschen, die in die Kreativwerkstatt kommen, beginnen erst hier mit der Malerei. Andere kommen eher zum Kaffeetrinken, irgendjemand bringt auch jedes Mal Kekse mit oder Kuchen, und gezwungen wird niemand zu irgendwas. Im Sommer gehen sie ab und an gemeinsam auf Flohmärkte, malen im Hohenheimer Park oder besuchen Ausstellungen. Manchmal stellen sie ein paar ihrer eigenen Bilder aus, in der Leonardskirche zum Beispiel, und irgendjemand hat sogar mal ein Bild für 1500 Euro verkauft, darauf sind sie alle hier stolz.

Amos ist auch ein Ort, der jenen, die hierherkommen, Ruhe bietet. Das liege vor allem an Estko, sagen viele hier, er strahle so eine Ruhe aus, das übertrage sich auf die ganze Stimmung. Schon Estkos Stimme ist ruhig, sein Lachen, der Blick, mit dem er durch den Raum geht und auf die Bilder guckt. Estko, 60 Jahre alt, ist in Polen geboren, floh nach Deutschland, studierte in den 80er Jahren Kunst in Gerabronn. Malen war sein Beruf, aber irgendwann musste er seine Arbeit aufgeben, weil er krank wurde. Bis ihn vor 14 Jahren jemand bat, eine Bastelwerkstatt für das Vorläufer-Projekt von Amos zu leiten, und er zugestimmt hat. Estko machte daraus eine Malwerkstatt, den Leuten hat es geholfen.

Heute ist diese Kreativwerkstatt sein Job. Jeden Dienstag und jeden Donnerstag kommt Estko schon eine Stunde vor Beginn in den Raum in der Olgastraße, stellt die Kisten mit Farbtuben auf die Tische, baut die Staffeleien auf, damit die Leute die Ideen nicht verlieren, mit denen sie herkommen. „Für mich ist Malen ein Selbstheilungsprozess“, sagt er. Farben hätten eine heilende Wirkung. Er spricht aus eigener Erfahrung, weil das Malen ihn selbst gesund gemacht habe, als er nicht mehr arbeiten konnte, als die Ärzte ihn als psychisch krank abstempelten. „Malen bedeutet die Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Welt um einen herum.“

Ohne Job und Papiere gibt es keine Versicherung, und ohne Versicherung keine Therapie

Marius Arcalean kommt seit ein paar Monaten hierher, aber dass es ihm helfe, sagt er schon jetzt. Die Mauern auf seinem Bild nehmen nun Kontur an, ein grauer Turm mit silbernem Mercedes-Stern überdeckt einen Teil des Mädchengesichts. „Der Stuttgarter Hauptbahnhof“, sagt Arcalean. „Vielleicht kommt meine Tochter mich bald besuchen.“ Ob das bloß eine vage Hoffnung ist, sagt er nicht, das weiß auch die Straßensozialarbeiterin nicht, die ihn regelmäßig trifft. Es gehe ihm nicht gut, Arcalean müsste eine Therapie machen, sagt sie, wahrscheinlich auch einen Alkoholentzug machen. Aber ohne Job und Papiere gibt es keine Versicherung, und ohne Versicherung wird keine Therapie bezahlt.

Arcalean wird jetzt unruhig, so richtig kommt er mit dem Bild nicht mehr weiter, also räumt er die Pinsel zusammen und bringt die Leinwand in einen Abstellraum im Keller. Es zieht ihn wieder zur Bierflasche, und rauchen will er auch. Immerhin, ein paar Stunden Ruhe und Konzentration habe ihm das Malen in der Kreativwerkstatt gebracht, eine Aufgabe, einen Halt, sagt die Streetworkerin, und die Tatsache, dass seine Bilder immer wieder ausgestellt würden, könne eine Perspektive sein.

Manche Freunde nennen ihn Picasso, sagt Arcalean, vielleicht, weil er ein bisschen abstrakt malt. In seiner Behausung in Bad Cannstatt stehen ein paar Bilder, die er für seine Tochter gemalt hat, obwohl er ihr diesen Ort eigentlich nicht zeigen will, weil es kein schöner Ort ist: eine grün angestrichene Hütte auf einem zugewucherten Gartengrundstück. Ein Kühlschrank, ein altes Sofa, eine Feuerstelle, eine Matte mit einem Schlafsack, und oberhalb rattern die Züge Richtung Stuttgart vorbei. „Besucher bitte klingeln“, steht auf einem Schild, obwohl es weder eine Eingangstüre noch eine Klingel gibt. Marius Arcalean mag diese Art von Ironie. „Picasso war auch erst arm“, sagt er, aber irgendwann habe der mit seinen Bildern was verdient.

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