Wer erbeutet mehr: gefräßige Raubtiere oder der Mensch? Eine statistische Analyse belegt den Verdacht, dass der Mensch der größte Jäger ist. Viele Tierarten geraten durch Überfischung und Jagd so unter Druck, dass sie drohen zu kollabieren.

Stuttgart - „Wir Menschen sind eine sehr außergewöhnliche Art“, sagt Boris Worm von der Dalhousie University im kanadischen Halifax nachdenklich. „Wir können zum Beispiel große Tiere aus relativ sicherer Entfernung mit Speeren, Pfeilen oder auch Schusswaffen jagen.“ Diese Besonderheit erlaubt es dem Menschen, stärker als Wölfe, Löwen, Eisbären, Adler oder Haie seine Beute zu dezimieren, halten Chris Darimont und seine Kollegen von der University of Victoria in der kanadischen Provinz British Columbia in der Fachzeitschrift „Science“ fest. Auf diese Weise hat der Mensch schon so manche Tierart ausgerottet.

 

Begonnen hat diese Entwicklung irgendwann in der Urgeschichte der Menschheit. Damals machten sich unsere frühen Vorfahren gewissermaßen vom Kronendach des Regenwaldes auf den Weg in die moderne Großstadt. Die Jäger und Sammler waren damals oft in Gruppen unterwegs und konnten so auch größere Beute erlegen. Das allein ist noch kein ungewöhnliches Verhalten, auch Wölfe jagen zum Beispiel gern in Rudeln. Teilt eine solche Gruppe verschiedene Aufgaben unter sich auf, steigen die Erfolgschancen enorm. So hetzt ein Teil eines Wolfsrudels die Beute auf den Rest der Gemeinschaft zu, der sich hinter Bäumen oder Felsen versteckt. Auf diese Weise erwischen sie auch vergleichsweise große Tiere. So kann ein Rudel durchaus einen 700 Kilogramm schweren Elch zur Strecke bringen, obwohl ein einzelner Wolf nur rund 40 Kilogramm wiegt.

Allerdings bezahlen die Tiere für diese Erfolgschancen einen hohen Preis: Mit seinen Hufen oder dem Geweih kann ein Elch einen angreifenden Wolf schwer verletzen. Und das kommt relativ häufig vor, wissen Wildbiologen: Häufig finden sie bei Tieren, die aus ganz anderen Gründen starben, noch Spuren von Knochenbrüchen und andere Verletzungen, die ihnen eine wehrhafte Beute zugefügt haben muss.

Mit dem Speer setzten sich Menschen von anderen ab

Mit diesem Risiko mussten wohl auch die menschlichen Jäger und Sammler leben. Bis ihnen ein Durchbruch gelang: Sie entwickelten Waffen, die aus sicherer Entfernung und damit außerhalb der Reichweite von Hufen, Krallen, Zähnen und Geweihen ihre Beute töten konnten. Mit solchen Speeren erlegten die Steinzeitmenschen in der norddeutschen Tiefebene schon vor mindestens 300 000 Jahren Pferde, die damals zu einer Wasserstelle in der Nähe der heutigen Gemeinde Schöningen in Niedersachsen trabten. Mit einer Kombination von gemeinsamer Jagd und Speeren brachten die Jäger so ohne größeres eigenes Risiko ausgewachsene Tiere zur Strecke und kamen damit zu reichlich Fleisch. „Der Mensch wandelte sich in einen Superjäger“, beschreibt Boris Worm diese Entwicklung.

Damit hatten die Steinzeitjäger einen Riesenvorteil vor anderen Tieren, die solche Fernwaffen bis heute nicht entwickelt haben. Konsequent nutzten sie ihre Möglichkeiten und erlegten zum Beispiel in der letzten Eiszeit in Mitteleuropa sehr viele Mammuts, die mit wenigen Tonnen Gewicht nicht viel leichter als die heutigen Steppenelefanten Afrikas waren. Als die Steinzeitmenschen vor gut zehntausend Jahren dann die Landwirtschaft erfanden, schien diese Überlegenheit weniger wichtig zu werden, weil man sich jetzt von der eigenen Ernte und den Herden gezähmter Tiere ernähren konnte. „Der Superjäger aber lebt weiter in uns“, sagt Boris Worm.

Dass die Jagdlust ungebrochen ist, zeigen Chris Darimont und seine Kollegen. Sie haben am Beispiel von 282 Fischarten im Meer und 117 Tierarten an Land untersucht, wie stark Menschen diese ausbeuten. Fachleute sprechen vom Nutzungsdruck, den der Mensch auf eine bestimmte Tierart ausübt. Diese Werte haben die Forscher mit denen tierischer Räuber verglichen: also etwa mit dem Nutzungsdruck, den Wölfe und Haie auf ihre Beute ausüben. Dabei analysierten sie in verschiedenen Regionen auf dem Land und im Meer insgesamt 2135 Bestände, von denen viele stark von Menschen beeinflusst sind, andere aber auch noch unberührt scheinen. Der Mensch, so das Ergebnis des Vergleichs, erbeutet bis zu 14-mal mehr ausgewachsene Tiere als die gefräßigsten Raubtiere.

Gejagt wird auch für Trophäen

Dabei geht es den Jägern keineswegs nur um den eigenen Kochtopf. An Land ist zum Beispiel der Druck auf die großen Beutegreifer vom Adler bis zum Löwen viel größer als auf Pflanzenfresser wie Büffel und Zebras, obwohl diese meist deutlich schmackhafter sind. Schließlich könnten Raubtiere und Greifvögel Konkurrenten um die gleiche Beute sein und liefern obendrein oft noch Trophäen, mit denen man seinen Jagderfolg belegen kann.

Noch stärker ist der Einfluss des Menschen im Meer und damit außerhalb seines eigenen Lebensraums. Während an Land die Jagd meist noch ein Handwerk ist, werden Fische und Meeresfrüchte längst mit industriellen Methoden aus dem Wasser geholt. „So holen die Fangflotten jedes Jahr 100 Millionen Tonnen Fisch aus dem Wasser, an Land erbeuten die Jäger dagegen weniger als fünf Tonnen Wild“, sagt Boris Worm. Genau wie an Land holen die Fischer vor allem ausgewachsene Tiere an Bord. Das hat dramatische Konsequenzen, denn es sind diese ausgewachsenen Tiere, die sich vermehren.

Die Forscher verwenden eine ökonomische Metapher: Die ausgewachsenen Tiere bilden demnach das Kapital, der Nachwuchs sind die Zinsen. „Wer sich beim Kapital bedient, geht oft ein hohes Risiko ein“, führt Boris Worm dieses Bild weiter. Dann könnten nämlich bald weniger Zinsen fließen. Und da das tierische Kapital nicht ewig lebt, sondern immer wieder durch Nachwuchs ersetzt werden muss, empfehlen die Forscher, nur so viel Kapital zu entnehmen, wie durch Zinsen ersetzt werden kann.

Die Wale hat der Mensch doch noch gerettet

Doch dieses Gleichgewicht ist in einigen Fällen schon längst gestört. Die Wissenschaftler beobachten, dass Jäger von den großen Beutegreifern Jahr für Jahr bis zu zehn Prozent des Bestandes holen. Bären und Wölfe waren daher – abgesehen von wenigen entlegenen Gebieten – in Mitteleuropa schon vor hundert Jahren ausgerottet. Ähnlich ist die Situation heute für Löwen und Tiger, die in jüngster Vergangenheit rasant abgenommen haben. Im Meer wiederum holen die Fischer von vielen Arten jährlich längst mehr als zehn Prozent des Bestandes aus dem Wasser – und dezimieren so das Grundkapital immer schneller, bis die Bestände zusammenbrechen. „So sind inzwischen die Hälfte aller Hai-Arten der Hochsee vom Aussterben bedroht“, nennt Worm ein aktuelles Beispiel.

Der Mensch übernutzt nach diesen Zahlen die Natur enorm. Aber noch ist es nicht zu spät gegenzusteuern, vermutet Boris Worm: „Der Mensch ist nämlich noch in einer weiteren Hinsicht eine außergewöhnliche Art: Er kann die Konsequenzen seines Handelns verstehen“, meint der deutsche Meeresbiologe im kanadischen Halifax. „Wir haben zwar oft eine gewisse Scheu, unsere Schuld am Ausrotten von Arten zu akzeptieren“ – aber wenn man sich das eingestehe, könne man wirkungsvolle Gegenmaßnahmen ergreifen. So wurden noch im 20. Jahrhundert Wale, Robben und auch verschiedene Vogelarten gnadenlos gejagt. Als es schon fast zu spät schien, erkannte der Steinzeitjäger in uns aber, dass er sich damit selbst in den Fuß schießt. „Wale, Robben und einige Vogelarten konnten so vor dem Aussterben gerettet werden“, fasst Boris Worm das Ergebnis dieser Einsicht zusammen.