Beim Aschermittwoch der Künstlerinnen und Künstler in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart spricht der Leiter des Literarischen Colloquiums in Berlin, Florian Höllerer darüber, wie die Lesung zunehmend Teil der Literatur wird.

Hohenheim - Beim traditionellen Aschermittwoch der Künstlerinnen und Künstler in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart geht es meist um die Bildende Kunst. In diesem Jahr jedoch stand die Literatur im Mittelpunkt. Genauer gesagt das Thema Literaturlesungen, über das Florian Höllerer, der ehemalige Leiter des Literaturhauses Stuttgart und derzeitiger Leiter des Literarischen Colloquiums Berlin, einen Vortrag hielt. Drei junge Sängerinnen der Musikhochschule Stuttgart sorgten zudem dafür, dass auch die Moderne Klassik Gehör fand – und das auf beeindruckende Weise.

 

Was während der Eucharistiefeier in der Antonius-Kirche zunächst konzertant dargeboten wurde, veranschaulichte das Ensemble im Anschluss an den Vortrag in der Akademie durch Gestik und Mimik: Luciano Berios 1966 entstandene „Sequenza III“. In dieser Komposition setzte der 1925 geborene Komponist erstmals alles ein, was man mit der Stimme machen kann. Die Gesangsprofessorin Angelika Luz hat sein Solo für Frauenstimme für drei Stimmen eingerichtet. Viktoriia Vitrenko, Sopran, Johanna Vargas, Sopran, und Catherina Berzé, Mezzosopran, machten die Zuhörer gekonnt mit den in den Konzertsälen nach wie vor ungewohnten Klängen vertraut. Sie schnaubten, trillerten, hechelten, husteten, jauchzten, keckerten und lachten. Es war schön zu erleben, wie sich die drei Stimmen umspielten, sich rieben, aber auch in Harmonie verschmolzen. Wie gut die drei Sängerinnen zusammenpassen, zeigte auch Misto Mochizukis „Halai“ (2009 komponiert), das unterschiedliche Aspekte und das gegenseitige Verständnis von Religionen veranschaulichte. Bei „... kannst Du nicht entfliehen – Von der Freiheit“ von Detlef Dörner wurde die Sopranistin Viktoriia Vitrenko vom Komponisten an der Orgel begleitet: eine Sequenz von fünf Tönen, die sich steigern, Furcht assoziieren und doch auch zu einer beruhigenden Harmonie finden.

Fürst zitiert Mercier

Bischof Gebhard Fürst zitierte vor der Austeilung der Asche den Schriftsteller Pascal Mercier („Nachtzug nach Lissabon“), der gesagt hat, er brauche Kathedralen gegen die „Gewöhnlichkeit der Welt“. Auch die Glaubenserfahrung, so der Bischof, sei eng verwoben mit Bildern und Geschichten. Literatur und Kunst seien es, die „den Menschen zu erhellen vermögen“.

Gastredner war in diesem Jahr Florian Höllerer, der seit zwei Jahren das von seinem Vater Walter Höllerer gegründete Literarische Colloquium Berlin leitet. Das Haus am Wannsee ist Veranstaltungsforum, Gästehaus, Arbeitsstätte und Talentschmiede für Autoren und Übersetzer. Höllerer setzte sich humorvoll und kritisch gleichermaßen mit dem Thema „Lesungen im aktuellen Literaturbetrieb“ auseinander. Ein Zitat Georg Christoph Lichtenbergs, der sich abwertend über einen vorlesenden Kollegen geäußert hat, bildete dabei den Ausgangspunkt: „Es soll überaus ätherisch da zugehen, bis auf das Geld, das Herr Klopstock dafür zieht.“

Schon bei Dickens

Ein neues Phänomen ist die Dichterlesung also nicht. „Mit Charles Dickens“, so erklärte Höllerer, „kommt die literarische Lesung von null auf hundert.“ Der englische Schriftsteller habe sogar die Intonation seiner Vorlesungen notiert – zu besichtigen im Dickens-Museum in London.

Heute seien Autoren und Verlage durch den „Vormarsch des Digitalen“ stark unter Druck. Sogar große Buchhandelsketten würden dem mit handschriftlichen Buchempfehlungen begegnen. Autoren müssten sich auf „nervenstrapazierende Lesereisen“ begeben, ein selbstverständlicher und oft wichtigerer Teil des Schriftstellereinkommens.

Die Lesung, so Höllerer, dient heute nicht nur der Bewerbung des fertigen Buches, sondern ist Teil der Literatur. In diesem Zusammenhang verwies er auf das Portal dichterlesen.net (eine Zusammenarbeit des Literarischen Colloquiums mit dem Literaturarchiv Marbach), in dem so etwas wie eine „Literaturgeschichte der Lesung“ entsteht. Das zentrale Werbemittel, die Mundpropaganda, verlagere sich immer mehr ins Internet, der neue Typ Leser verlange nach Interaktivität, nach Teilhabe. Das gehe so weit, dass junge Leser, denen ein Selfie mit dem Autor verweigert werde, auch keine Signatur mehr wollten.