Stuttgarts demografisch ältester Stadtteil Asemlwald wird wieder modern. Rentner und Familien mit Kindern ziehen zu. Wer hätte das vor zehn Jahren gedacht?

Stuttgart-Asemwald - Treten Sie näher.“ Aufgeräumt bittet Peter Hövelborn – auch während der Woche in Hemd, Pullunder und mit Fliege – den Besuch herein und tritt ins Wohnzimmer. „Schauen Sie, ein Licht ist das hier“, sagt der 72-Jährige. Tatsächlich ist der Raum in blendende Helligkeit getaucht. Und das, obwohl die Hövelborns im zweiten Stock im Asemwald wohnen, weit unterhalb der Baumgrenze auf Höhe der Etage zehn. Hövelborn öffnet die Balkontür. Der Frühlingswind weht Kinderlachen und Vogelgezwitscher zu ihm herauf. Die beiden Kindergärten des Asemwalds liegen keine 50 Meter Luftlinie entfernt. Lärmprobleme? Hövelborn lacht. Kinderlachen ist doch kein Lärm, sagt er. „Das nenne ich Atmosphäre.“ Im Sommer öffnet er oft die Fenster, um das Leben der Straße hereinzulassen.

 

Seit vier Jahren wohnen die Hövelborns im Asemwald. Früher hatten sie nie daran gedacht, hierher zu ziehen. Nicht, weil sie gegen die Großwohnsiedlung waren. Aber wer in der Stuttgarter Innenstadt wohnt, für den liegt das Birkacher Feld bereits außerhalb. Mit Rentenbeginn wollte das Paar näher bei den Kindern in Birkach wohnen. Einen Aufzug sollte das künftige Domizil haben, schön gelegen sein, mit Nahversorgung vor Ort. „Da kam nur der Asemwald in Frage.“

Wohnblöcke wachsen aus dem Acker

Klar, wenn man die Siedlung aus der Ferne sehe – drei monumentale Wohntürme, die aus dem Acker emporwachsen – das sei schon ein gewöhnungsbedürftiger Anblick, sagt Hövelborn. Zumal sich der ehemalige Architekt von Berufs wegen mit einem anderen Konzept von Wohnen beschäftigt hat: Als Stadtplaner in Esslingen war er für die Sanierung der zu weiten Teilen denkmalgeschützten Altstadt verantwortlich. Jetzt lebt er in einem von drei 21-stöckigen Häusern, ausgelegt für mehr als 3000 Menschen. Eine Massensiedlung. Größer kann der Kontrast nicht sein.

„Wem etwas gehört, der kümmert sich drum“

Doch mit dem Begriff „Masse“ ist Hövelborn nicht einverstanden. „Vorsicht!“, sagt er. „Baumasse bedeutet nicht die Vermassung der Menschen.“ Im Asemwald kenne man seine Nachbarn, treffe sich reihum im Literatur- oder Architekturkreis. Deswegen haben er und seine Frau so schnell Anschluss gefunden. Weil immer nur drei Wohnungen in einem Flur sind, keine Miet-, sondern Eigentumswohnungen, von einem Anwohnerbeirat verwaltet. „Wem etwas gehört, der kümmert sich drum“, sagt Hövelborn. Deswegen sei der Asemwald eben nicht wie viele Großwohnsiedlungen zu einem Brennpunkt geworden.

Die Wirkung von Architektur auf die Gesellschaft ist sein Leib- und Magenthema. Hövelborn hat eine Mappe mit alten Zeitungsartikeln herausgesucht. Von wegen „Ein Wohnautomat kann nie Heimat sein“. Unter dieser Überschrift wetterte im April 1959 ein Architekturprofessor in der Stuttgarter Zeitung gegen den Riesenbau „Hannibal“ auf den Fildern. Hannibal – dieser Spitzname für die gigantische wohnsiedlung vor den Toren Stuttgarts machte bundesweit Schlagzeilen. Die Erinnerung an größenwahnsinnige Bauprojekte der NS-Zeit war noch frisch. „Oder hier“, sagt Hövelborn und blättert weiter: „Ein neuer Typus Mensch für ‚Hannibal‘“, liest er vor: „Das soziologische Problem bleibt ungelöst.“ Der 72-Jährige lächelt. Probleme? Welche Probleme? „Der Asemwald war eine Vision. Und diese Vision funktioniert.“

Die Hövelborns sind ein Paradebeispiel für die neuen alten Asemwalder. Es seien vor allem gut situierte und junge Rentner aus der Region, die die Wohnungen jetzt stark nachfragen, sagt der Makler Thomas Aleksic vom Immobilien-Unternehmen vor Ort. Für altersgerechten Wohnraum im Asemwald verkaufen sie ihre Eigentumswohnungen in der Stadt oder das Häuschen im Grünen. Nach einem Durchhänger vor zehn Jahren ist Stuttgarts demografisch ältester Stadtteil wieder en vogue. „Das Wohnen hier ist bezahlbar“, sagt Aleksic. „Versuchen Sie mal, eine Zwei-Zimmer-Wohnung für 750 Euro in Sillenbuch zu mieten. Keine Chance.“ Auch wer eine Wohnung kaufen will, müsse im Asemwald weniger tief in die Tasche greifen als in den umliegenden Stadtteilen. Bis zu 2000 Euro koste der Quadratmeter für eine der teureren Wohnung oberhalb der Baumgrenze, im einen Kilometer entfernten Plieningen könne man locker einen Tausender drauf legen. Ein Nachteil: Der Asemwald hat keinen Stadtbahnanschluss. Wer nach Stuttgart will, muss den Bus nehmen. Ein weiterer Nachteil: Größere Reparaturen brauchen Vorlauf. Schließlich muss sich die Eigentümergemeinschaft einig werden. „Das kann dauern“, sagt er.

Die Hausordnung ist heilig

Doch es sind nicht nur junge Rentner, die den Asemwald entdeckt haben. Seit einiger Zeit beobachtet Aleksic einen Generationswechsel, auch wenn dieser ein zartes Pflänzchen ist. „Es kommen Familien mit Kindern.“ Viele von ihnen sind im Asemwald aufgewachsen, durch ihn geprägt. Aber nicht alle. Robert Brixner beispielsweise nicht. „Stuttgarter Norden, frei stehendes Einfamilienhaus mit Garten“, so ist der 43-Jährige aufgewachsen. In den Asemwald ist er vor zehn Jahren mit seiner Frau, die damals noch seine Freundin war, gezogen. Zwei junge Architekten, die bezahlbar, aber niveauvoll zur Miete wohnen wollten, die die Bleibe eher als Hotelzimmer denn als Lebensmittelpunkt nutzten. Seine Frau war von Beginn an begeistert. Brixner empfand den Asemwald als gute Zwischenlösung, sah sich in nicht allzu ferner Zukunft aber im Häuschen im Grünen. Dann kamen die Kinder, und Brixners Frau setzte sich durch – zumindest solange die Kinder klein sind. Denn so praktisch wie hier, den Kindergarten in Sichtweite, die Anlage eine einzige Spielstraße, würde man es kaum anderswo in Stuttgart antreffen.

Vom Kopf her stimmt Brixner weiterhin für den Asemwald. „Nirgendwo in Stuttgart ist der Flächenfraß pro Einwohner geringer.“ In keinem anderen Stadtteil, da ist er sich auch sicher, hätten er und seine Frau so schnell Anschluss gefunden, so viele Leute mit ähnlichen Interessen kennengelernt. „Man muss sich nur ein bisschen engagieren, in einen der Arbeitskreise gehen.“ Dass der Großteil der Nachbarschaft um einige Jahrzehnte älter ist, stört die Brixners nicht. „Die sind kinderfreundlich und freuen sich, dass durch junge Familien wieder etwas von der Erstbezieher-Stimmung aufkommt.“

Dennoch, es gibt diese Momente, in denen Brixner der Gemeinschaftsgeist im Asemwald auf den selbigen geht. Die Hausordnung ist heilig. Nach 19.30 Uhr ist vielerorts in der Wohnanlage Zapfenstreich. Und manchmal kommt es vor, dass er darauf hingewiesen wird, seine Kinder nicht allein im Aufzug fahren zu lassen. „Weil das eben so in der Hausordnung steht.“ Diese wurde Anfang der 70er-Jahre verfasst. „Aber das ist eher selten. Und das kann einem überall passieren“, sagt Brixner.

Aus dem Kindergarten wurde eine Tagesstätte

Ein paar Stockwerke tiefer stehen die Zeichen im Asemwald auf Kinder – wenn auch erst seit Kurzem. 2009 wurde Marita Arnold Leiterin des katholischen Kindergartens im Asemwald – um ihn zu schließen. Ihre Mutter hatte den Kindergarten in den 70er-Jahren aufgebaut, nun würde die Tochter also den Rückbau leiten. „Die Zahl der Anmeldungen war über die Jahre extrem zurückgegangen“, nennt sie als Grund. Ähnliches galt für den benachbarten evangelischen Kindergarten. Die Öffnungszeiten nur am Vormittag waren für berufstätige Eltern wenig attraktiv. Hinzu kam, dass immer weniger Familien mit Kindern im Asemwald lebten.

Andrang in der Kindertagesstätte

„Ich hab mir damals gedacht: Schließen können wir ihn immer noch“, schildert Arnold den Wandel. Es gelang ihr, aus dem Kindergarten eine Tagesstätte zu machen. Seitdem ist sie bis 16.30 Uhr geöffnet, bietet Frühstück, Mittagessen und Mittagsschlaf. Heute betreuen Arnold und ihre zwei Kolleginnen 18 Kinder im katholischen Kindergarten. 70 warten auf einen Platz. Gingen viele Asemwald-Kinder noch vor wenigen Jahren nach Birkach und Plieningen, stehen jetzt viele von dort auf der Asemwald-Warteliste. „Ich würde mehr aufnehmen, aber das können wir nicht“, sagt Arnold. Von einem Kinderboom im Asemwald möchte sie nicht sprechen. „Aber es kommt schon vor, dass Eltern für einen Kita-Platz hierher ziehen.“ Und bleiben.