Für die Stadt Stuttgart sind die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge häufig ein Problem. Viele junge Männer aus den Krisenländern der Welt sind in den vergangenen Jahren hierhergekommen, mit dem Ziel, sich in die Jugendhilfe hineinzumogeln.

Stuttgart - Die Polizei hat Muhammad im Nachtzug von Karlsruhe nach Stuttgart aufgegriffen. Eine Fahrkarte hatte der afghanische Flüchtling nicht, dafür die Anweisung seines Schleusers, in Stuttgart auszusteigen und sich bis zum Notaufnahmeheim für Jugendliche durchzuschlagen. „In den meisten Fällen setzen die Schleuser die Jungs direkt vor unserer Tür ab und sagen ihnen, wo sie klingeln müssen“, erzählt Harry Hennig vom Jugendamt. Der Abteilungsleiter ist überzeugt: „Die Adresse Kernerstraße 36 ist bis Karachi bekannt.“ Einmal im Stuttgarter Osten angekommen, fischen die Flüchtlinge verknüllte Zettel mit der Adresse aus ihrer Hosentasche und sagen nur ein Wort: „Help“, hilf mir.

 

Geholfen haben die Sozialarbeiter auch Muhammad, der nach einer monatelangen Odyssee ohne Angehörige über den Iran, die Türkei, Griechenland und Italien in das gelobte Stuttgart gekommen ist. Muhammad hat Glück, er gilt als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling und genießt damit alle Vorzüge der deutschen Jugendhilfe.

Der 16-jährige Afghane hat ein Dach über dem Kopf, er wird mit Essen versorgt, bekommt täglich 1,50 Euro Taschengeld und wird bald mit einem Deutschkurs starten und dann auch die Möglichkeit bekommen, einen Schulabschluss zu machen. „Ich habe meine Mutter in Rasni angerufen und ihr gesagt, mach dir keine Sorgen, alles ist gut“, erzählt der Jugendliche. Seit 2009 kamen jedes Jahr zwischen 86 und 110 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die in Stuttgart ihr Glück suchen, im Moment sind es ein bis zwei, die jede Woche in der Kernerstraße landen.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind ein Problem

Für die Sozialarbeiter ist Muhammad ein vorbildlicher Jugendlicher. Für die Stadt Stuttgart aber sind die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zu einem Problem geworden. Viele junge Männer aus den Krisen- und Entwicklungsländern der Welt sind in den vergangenen Jahren hierhergekommen, mit dem Ziel, sich in die Jugendhilfe hineinzumogeln. „Immer wieder stehen Männer vor der Tür, die mindestens Mitte 20 sind, aber behaupten, sie seien 16 Jahre alt“, erzählt die erfahrene Sozialarbeiterin Carmen Krosch.

Noch vor sechs, sieben Jahren wären die Männer trotzdem in die Jugendhilfe gerutscht, inzwischen hat die Stadt Stuttgart aber Barrieren aufgebaut, zu denen ein Altersbestimmungsverfahren gehört. „Damals waren die Zahlen einfach so gering, dass die Flüchtlinge in der Jugendhilfe nicht ins Gewicht fielen“, erklärt Hennig.

Längst machen sich Schleuser dieses Tor ins deutsche Hilfesystem systematisch zunutze und weisen ihre Schützlinge entsprechend an. Den passenden Text dazu hat Krosch schon oft gehört, selbst von Männern, bei denen sich schon die ersten Geheimratsecken abzeichneten: „I am under 18“, ich bin unter 18. Tatsächlich brachte die Altersbestimmung des Jugendamts in den vergangenen Jahren regelmäßig dasselbe Ergebnis: lediglich 20 bis 30 Prozent wurden als minderjährig eingestuft. Die „Verjüngungskur“ hat handfeste Gründe: Anstelle der umfassenden Jugendhilfe warten auf die unerlaubt eingereisten Erwachsenen noch immer Essensgutscheine und Sachleistungen über 184,07 Euro im Monat, ein Taschengeld von 41 Euro wird meist nicht gewährt.

Integrationsministerium will der Stadt helfen

Jetzt bekommt die Stadt Stuttgart Hilfe vom Land. Um die Städte und Landkreise mit einer hohen Anzahl an tatsächlich minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen zu entlasten, plant das Integrationsministerium eine Anrechnung der Minderjährigen auf die jeweilige Quote der Asylbewerber – was bisher nicht geschieht. Das heißt für jeden aufgenommenen minderjährigen Flüchtling ohne Angehörige muss der jeweilige Landkreis einen Asylbewerber weniger aufnehmen. Geprüft wird zudem, ob es möglich ist, die Jugendlichen auch außerhalb des Stadtkreises unterzubringen, in dem sie aufgeschlagen sind.

Anrechnet werden sollen auch die Flüchtlinge, die als volljährig eingestuft wurden. Der stellvertretende Sozialamtsleiter Stefan Spatz begrüßt die Änderungen: „Wir versorgen im Moment 85 Volljährige, was im Jahr mit einer Million Euro zu Buche schlägt, weil uns das Land keine Kosten erstattet.“ Das soll sich ändern. In einem Punkt aber gehen der Stadt die Pläne des Landes nicht weit genug: „Wir brauchen auch bei den Erwachsenen die Möglichkeit, sie an andere Kreise zu vermitteln“, sagt Spatz. Bisher bleiben die illegal eingereisten Erwachsenen in den Stuttgarter Unterkünften, abgeschoben werden können sie meist nicht, weil Papiere fehlen. „Wir haben es teilweise mit einer schwierigen Klientel zu tun, die viel Unruhe in ein Heim bringen kann“, erklärt Spatz. Er fordert deshalb, dass auch andere Kreise in die Pflicht genommen werden.

Polizei hat seit 2009 eine eigene Ermittlungsgruppe

Casablanca heißt die Ermittlungsgruppe der Polizei, die sich seit 2009 mit einem Teil der illegal Eingereisten beschäftigt. Zwei Beamte kümmern sich seither um 150 bis 160 der jungen und nicht mehr so jungen Männer, die vorwiegend aus den nordafrikanischen Maghrebstaaten stammen und wiederholt wegen Diebstahls aufgefallen sind. Derzeit stehen noch 50 Flüchtlinge im Fokus der Ermittler. „Die Männer versuchen sich auf diesem Weg einen höheren Lebensstandard zu sichern“, sagt der Polizeisprecher Jörg Korowski und fügt hinzu, dass die Zahl der Delikte rückläufig sei.

In manchen Fällen ist es nicht der Wunsch nach einem höheren Lebensstandard, der die Flüchtlinge zu den Diebstählen treibt, sondern es sind Schulden bei ihren Schleusern. „Viele haben ihre Flucht noch gar nicht abbezahlt, wenn sie ankommen“, erzählt Jens Peter von der Arbeitsgemeinschaft Dritte Welt, die Vormundschaften für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge übernimmt. Peter schätzt, dass er und seine Kollegin in den vergangenen zehn Jahren mehr als 500 junge Menschen begleitet haben. Die Fluchtgeschichten will der Sozialarbeiter schon gar nicht mehr hören, weil er weiß, wie viel von den Schleusern eingeflüstert ist. Was ihn interessiert, ist das Engagement der Flüchtlinge in ihrer neuen Heimat. „Wir haben junge Leute, die heute einen festen Job bei Daimler haben und andere, die im Gefängnis sitzen“, sagt Peter. Sein Fazit aber lautet: die Mehrzahl schaffe es, sich gut zu integrieren.

Von einem Ausbildungsplatz ist Muhammad aus Afghanistan weit entfernt, er fiebert seinem Deutschkurs entgegen. Die Sozialarbeiterin Carmen Krosch drückt ihm die Daumen: „Unser Notaufnahmeheim profitiert von jungen Männern wie ihm, die dankbar sind für die Hilfe, die sie bekommen.“ Ganz anders die deutschen Jugendlichen, die vielfach an „Wohlstandsverwahrlosung“ litten. „Da ist keine Dankbarkeit mehr zu spüren.“