Wieder sind Hunderte von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrunken. Die neue Katastrophe zeigt: die Strategie der Abschottung ist gescheitert. Rufe nach Nothilfe werden lauter.

Brüssel - Schon vergangenes Jahr ist das Mittelmeer der mit Abstand tödlichste Ort für Flüchtlinge gewesen. Mehr als 3000 Menschen starben 2014 auf dem Weg von Afrika nach Europa – 75 Prozent aller Flüchtlingstoten weltweit, wie aus einer Studie der Internationalen Organisation für Migration hervorgeht. Laut deren Experten Federico Soda hat sich die Zahl der Toten in den ersten vier Monaten diesen Jahres im Vergleich zum Vorjahr nicht weniger als verzehnfacht. Er sagte das am Mittwoch, als 400 Menschen ums Leben kamen, und demnach vor der erneuten Katastrophe am Sonntag, bei der bis zu 700 Tote zu beklagen sein könnten. „Dies ist unakzeptabel. Die Such- und Rettungsoperationen müssen umfassender und von der Europäischen Union sowie ihren Mitgliedstaaten unterstützt werden.“

 

Zuletzt ist das Gegenteil der Fall gewesen. Die EU-Innenminister führten die steigenden Totenzahlen nicht auf zu wenig, sondern zu viel Seenotrettung zurück. Der italienischen Operation Mare Nostrum, die insgesamt 140 000 Menschen aus dem Mittelmeer fischte, wurde auch von Bundesinnenminister Thomas de Maizière ein „Sogeffekt“ unterstellt, weil Schleuserbanden die Flüchtlinge nur noch wenige Meilen aufs Meer hinaus bringen müssten, wo sie dann mit großer Sicherheit gerettet würden. „Wir helfen den Schleppern“, so de Maizière.

EU-Operation Triton ersetzt „Mare Nostrum“

Auch aus Kostengründen wurde Mare Nostrum daher im Herbst durch die EU-Operation Triton ersetzt – mit dem tödlichen Unterschied, dass ihr Aktionsradius auf das italienische Hoheitsgewässer bis zu 30 Seemeilen von der Küste begrenzt wurde. Die Annahme nämlich, dass damit die Zahl der Bootsflüchtlinge sinken würde, hat sich – beispielsweise wegen des eskalierenden Bürgerkriegs in Libyen nicht bewahrheitet. „Die Zahlen steigen – sowohl über das Mittelmeer wie auch die sogenannte Balkanroute“, musste Innenminister de Maizière Mitte März einräumen: „Wir stehen in der Flüchtlingsfrage vor einem ganz schwierigen Abwägungsprozess, wo es kein richtig oder falsch gibt.“

Nach dem wohl schlimmsten Unglück bisher gibt es für viele keine Abwägungen mehr zu treffen. „Menschenleben müssen gerettet werden“, so Günter Burkhardt von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl: „Es ist völlig egal, ob dadurch Schlepper profitieren.“ Europäische Sozialdemokraten, Grüne und Linke riefen am Sonntag übereinstimmend nach einem umfassenden Seenotrettungsprogramm. „Wer vor Krieg und Zerstörung flieht, den dürfen wir nicht weiter kriminellen Schleppern und den Launen des Mittelmeers überlassen“, sagte die Grünen- Europa-Abgeordnete Barbara Lochbihler: „Die Tatenlosigkeit der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten ist längst nicht mehr hinnehmbar.“

Die EU-Kommission verweist auf eine neue Strategie

Ihre Parteichefin Simone Peters nannte dies eine „Schande“. Der sozialistische Fraktionschef im Europaparlament, Gianni Pittella, forderte „einen EU-Sondergipfel, der eine europäische Mare-Nostrum-Operation beschließt“. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, die die Flüchtlingspolitik kurzfristig auf die Tagesordnung des Außenministertreffens am Montag in Luxemburg setzte, stellte fest: „Wir haben schon zu oft ,Nie wieder!’ gesagt.“

Die Brüsseler EU-Kommission verwies in einer Stellungnahme darauf, dass sie bereits an einer neuen europäischen Migrationsstrategie arbeitet, die Mitte Mai präsentiert und im Anschluss gemeinsam von EU-Außen-und Innenministern beraten werden soll. Im Mittelpunkt stehen dabei eine bessere Zusammenarbeit mit den Transitländern speziell Nordafrikas und legale Einreisemöglichkeiten. Dies könnte auf einer Ausweitung sogenannter Resettlement-Programme hinauslaufen, bei denen vor Ort überprüft wird, ob ein Asylanspruch in Europa besteht. Vor gut einem Monat erklärte Innenminister de Maizière in Brüssel, was Flüchtlinge in solchen von den Vereinten Nationen betriebenen Auffangrichtungen zu hören bekämen. „Ihr habt keine Chance, in Europa Asyl zu bekommen, geht zurück in Eure Heimat. Oder aber: Ihr habt gute Chancen, in Europa Asyl zu bekommen. Wir holen Euch nach Europa, ohne aber dass Ihr kriminellen Schleppern Geld dafür geben müsst.“

Flüchtlingsorganisationen sehen jedoch auch bei diesem Ansatz viele Fragezeichen, und auch der Minister räumte ein, dass dies – von einem Pilotprojekt im Niger abgesehene – noch Zukunftsmusik ist. „Bis es dazu käme, wird sicher noch viel Zeit vergehen. Aber es ist ein vernünftiger Vorschlag, aus diesem Dilemma eine Teillösung zu entwickeln.“ Die neuerliche Katastrophe jedenfalls erhöht den Handlungsdruck noch weiter.