In der umstrittenen Notunterkunft in Berlin-Hellersdorf zogen am Montag die ersten Flüchtlinge ein. Grünen-Chef Trittin hat mit den Anwohnern gesprochen.

Berlin - Seit Montagmorgen hat die alte Max-Reinhardt-Schule in Berlin-Hellersdorf blütenweiße gestreifte Gardinen. Die Menschen im Plattenbau gegenüber sehen zu, wie ein paar Leute einer Umzugsfirma die Vorhänge aufhängen, wie ein Lastwagen anhält, aus dem ein paar graue Stühle entladen werden, wie die Polizei kommt, in schusssicheren Westen und Einsatzanzügen, dazu die Fotografen, die Übertragungswagen, wie die Nachbarn sich im sommerlichen Nieselregen auf dem Gehweg versammeln. Zigarette in der einen Hand, Energydrink in der anderen. „Hier wird nicht mehr gesprochen“, ruft ein älterer Herr irgendwann von seinem Balkon. „Die Zeit des Redens ist vorbei.“

 

Für Nancy, 32, ist der Fall klar. Was hier passiert, ist eine Katastrophe. „Ich liebe meinen Kiez, und mir tut es weh, wenn jetzt hier alles kaputt gemacht wird.“ Nancy ist eine der Nachbarinnen, die auf der Straße stehen, türkisfarbenes Shirt, Tätowierung auf dem Arm, silberne Sandalen. „Ich bin kein Nazi“, sagt Nancy. Aber dass die alte Schule hier zum Heim für Asylbewerber wird, das findet sie grundfalsch. „Ich fühle mich verarscht“, sagt die junge Frau, „von der Politik.“ Die Nachbarn, die neben ihr stehen, nicken. Nancy will ihren vollen Namen lieber nicht nennen, wegen der Medien, die sie „nur in die Neonaziecke drängen“, und wegen der Sanktionen, die sie in diesem Staat zu erwarten habe, wenn sie die Wahrheit sage.

Die Wahrheit, das ist in Nancys Augen, dass nun ihr friedliches Leben gefährdet ist. Weil an diesem Montag die ersten von vermutlich mehreren Hundert Asylbewerbern in die leer stehende, benachbarte Schule einziehen. Syrer vermutlich, aber vielleicht auch tschetschenische Terroristen, so genau weiß das ja keiner.

Erst die Nazis, dann die Antifa

„Ich muss da nachts gegen 23 Uhr langgehen, das kann ich nicht mehr ohne Angst.“ Auch dass die Polizei sie seit einigen Tagen immer kontrolliert, wenn sie die Straße entlanggeht, findet Nancy unzumutbar. „Das wird hier alles immer noch schlimmer. Erst kommen die Flüchtlinge, dann kommen die Nazis, dann kommt die Antifa aus Kreuzberg und macht alles kaputt und bedroht uns.“

Marzahn-Hellersdorf, am östlichen Rand von Berlin, einst Vorzeigeneubaustadtteil der DDR, heute Stadtrand, sanierte Plattenbauten in Sonnengelb, eine kleine Fußgängerzone mit Trattoria Rossini und Dönerimbiss. Ein Ort, der dazu einlädt, das Klischee vom Transferleistungsempfänger im Plattenbau zu sehen oder das derjenigen, die seit der Wende nicht das Gefühl haben, zu den Gewinnern des Systems zu gehören. „Ich lebe hier, weil ich meine Ruhe will“, sagt Nancy. „Ich bin hierhergekommen, weil ich schwanger wurde und mein Kind in Ruhe aufwachsen sollte“, sagt ihre Nachbarin. „Ich lebe hier, weil ich Probleme mit gewissen Bevölkerungsgruppen habe, die hier nicht sind“, sagt Dirk Poldauf, der um die Ecke wohnt. Ausländeranteil: knapp über drei Prozent.Mit Ausländern hat man wenig Erfahrung, aber man hört ja so einiges, Zwangsehen, Terrorismus, Frauenfeindlichkeit, Kriminalität, vor allem seit einigen Wochen. Denn seit Anfang Juli brodelt es hier in der Carola-Neher-Straße – seitdem die Bürger hier erfahren haben, dass die Asylbewerber kommen sollen. Sie haben es aus den Medien erfahren. „Wir wurden überhaupt nicht gefragt“, sagt Nancy, „sie haben es einfach so beschlossen.“

Das Land kann die Flüchtlinge nicht mehr unterbringen

Sie, das sind wahlweise, „die Politiker“, „die da oben“ oder gleich „das System“. In Hellersdorf passiert nichts anderes als anderswo in der Stadt, das Land kann die Flüchtlinge nicht mehr unterbringen, neue Unterkünfte müssen her, möglichst inmitten einer Gegend mit Schulen, Kitas, Infrastruktur – das gefällt den Anwohnern häufiger nicht. In Reinickendorf haben Eigenheimbesitzer einen Zaun um den Spielplatz ihrer Wohnanlage gezogen, auf dass der Spielsand nicht durch Flüchtlingskinder verunreinigt werde.

In Hellersdorf wird seit Wochen erbittert gestritten. Und seit Wochen gelingt es offensichtlich Neonazis mit wachsendem Erfolg, die Szene aufzuheizen. Erschreckende Szenen spielten sich bei einer Anwohnerversammlung Anfang Juli ab. Viele der sogenannten Anwohner, die sich dort versammelten, stammten nicht aus dem Bezirk, die Stimmung war von Beginn an gereizt. Als Erster ergriff dort Beobachtern zufolge der Landesvorsitzende der Berliner NPD, Sebastian Schmidtke, das Wort, auch eine Vertreterin der Frauen in der NPD sprach – als besorgte Mutter. Anwohner, die sich differenziert äußerten, wurden ausgebuht, es gab Rangeleien, und in die Sprechchöre „Nein zum Heim“ fielen Dutzende Menschen ein. Zu der Versammlung liefen Beobachtern zufolge Männer auf, auf deren T-Shirts die Daten der Ausschreitungen gegen Asylbewerber von Rostock-Lichtenhagen 1992 aufgedruckt waren. Die Spitze des Bezirks, der von der Linkspartei regiert wird, war überfordert. Die Situation eskalierte derart, dass sich tags darauf der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit genötigt sah, zur Besonnenheit aufzurufen.

Diffamierung auf Facebook

Seitdem agitiert eine sogenannte Bürgerinitiative gegen das Heim konkret und gegen Einwanderungspolitik insgesamt. Die Macher bleiben anonym und sind zu keinerlei Interviews bereit. Der zuständige Berliner Sozialsenator Mario Czaja, der seinen Wahlkreis in dem Bezirk hat, wird auf Facebook persönlich diffamiert. Der Verfassungsschutz vermutet Rechtsextremisten hinter der Aktion. Und der Bezirk? „Der schweigt“, sagt Ines. „Was ich hier sehe, sind Polizisten in meinem Viertel“, ärgert sich Ines. „Man wird kriminalisiert. Ich muss den Polizisten erklären, was ich hier mache.“ Tatsächlich schützen Polizisten das Heim von allen Seiten – auch an diesem Nachmittag. Und das nicht ohne Grund. Drinnen redet der Grünen-Fraktionschef und Spitzenkandidat Jürgen Trittin mit den Neuankömmlingen, draußen brüllen sich Anwohner und Antifaschisten immer aggressiver an. „Wir sind das Volk“, schreien die einen, „Bleiberecht für alle“, fordern die anderen.

Ein Anwohnerin, die ihren Namen nicht nennen will, beklagt sich: „Wir werden hier nicht gehört“. Dann zeigt sie auf das Heim und fährt fort: „Und am Ende wird es so sein, dass das hier abbrennt.“