Kinderärzte und Kliniken kommen angesichts ungewöhnlich vieler Atemwegserkrankungen bei Kindern an ihre Belastungsgrenze – auch in Baden-Württemberg.

Wissen/Gesundheit: Werner Ludwig (lud)

Die derzeitige Erkältungswelle bei Kindern macht sich auch im Olgahospital des Klinikums Stuttgart bemerkbar, der größten deutschen Kinderklinik. „Allein die Besuche der Kindernotaufnahme liegen in diesem Jahr auf Rekordniveau und werden bis zum Jahresende weit über 40 000 Behandlungen erreichen“, sagt der Vorstandsvorsitzende des Klinikums, Jan Steffen Jürgensen. Als Ursache nennt er vor allem „atypische Häufungen von Atemwegsinfekten“. Auch die Zahl der Infektionen mit dem RS-Virus, das für einen Teil der Erkältungen verantwortlich ist, habe deutlich zugenommen.

 

Von katastrophalen Zuständen, wie sie teilweise aus anderen Bundesländern gemeldet werden, will Jürgensen aber nicht sprechen. Allerdings würden auch in Klinikum Stuttgart jugendliche Schwerkranke auf die Erwachsenen-Intensivstation verlegt, „um auf der Kinder-Intensivstation Plätze für den hohen Behandlungsbedarf kleinerer Kinder zu gewinnen“.

Eine Sprecherin der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft berichtet ebenfalls von einer starken Belastung der Kinderstationen im Land. Teilweise müssten Kinder mangels freier Betten verlegt werden. Derzeit kämen gleich mehrere Probleme zusammen: Kinder mit schlecht trainiertem Immunsystem, die allgemeine Personalknappheit in den Kliniken sowie viele krankheitsbedingte Ausfälle.

Kein „supergefährliches Virus“

In den allermeisten Fällen können Kinder eine Infektion mit dem RS-Virus, die mit typischen Erkältungssymptomen einhergeht, zuhause auskurieren. „Deutlich weniger als ein Prozent der infizierten Kinder bekommen ernsthafte medizinische Probleme, sagt der Reutlinger Kinderarzt Till Reckert, Landessprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. „Wie sollten auf keinen Fall die Botschaft aussenden, dass dieses Virus supergefährlich ist“. Nur sehr wenige Kinder erkrankten so stark, dass sie ins Krankenhaus eingewiesen oder beatmet werden müssen – etwa beim Auftreten einer spastischen Bronchitis oder einer Lungenentzündung. Stärker gefährdet sind Frühgeborene, Kinder mit Lungen-Vorerkrankungen oder Immunschwäche.

„Wenn Intensivmediziner sagen, wir schaffen das kaum noch, dann ist das nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Reckert. Denn die erste Anlaufstelle seien in der Regel die niedergelassenen Ärzte. Der Kinderarzt schätzt, dass er durch die aktuelle Infektionswelle rund ein Viertel mehr kleine Patienten hat als normalerweise – und das vor dem Hintergrund, dass viele Praxen vorher schon an ihrer Belastungsgrenze gearbeitet hätten.

Auch die Influenza-Zahlen steigen

Exakte Zahlen zur Verbreitung des RS-Virus gibt es nicht, da die Infektion nicht meldepflichtig ist und auch keine routinemäßigen Tests vorgenommen werden. Nach Hochrechnungen des Robert Koch-Instituts waren in der Woche vom 14. bis 20. November rund 8,3 Prozent der Gesamtbevölkerung von akuten Atemwegserkrankungen mit Fieber, Husten oder Halsschmerzen betroffen – nach 6,7 Prozent in der Woche davor. Die Zahlen beziehen sich auf Kinder und Erwachsene, bei denen die Infektionen in den allermeisten Fälle milder verlaufen. Auch bei Influenza steigen die Infektionszahlen. „Es gibt schon Kindergarten-Gruppen, die deshalb fast leer sind“, berichtet Reckert. Normalerweise hätten Grippewellen ihren Höhepunkt erst im Februar oder März. „Dieses Mal sind wir deutlich früher dran“.

Jürgensen führt die aktuelle Welle teils auf Nachholeffekte zurück. Viele Kinder kämen jetzt nach zwei Corona-Wintern mit vielen Schutzmaßnahmen erstmalig in Kontakt mit entsprechenden Viren – und erkranken, weil sie bislang keine natürliche Immunität aufbauen konnten. „Nach einer fast ausgefallenen RS-Virus-Welle 2020 war bereits die Welle im vergangenen Jahr ungewöhnlich stark und setzte auch früher ein als in den vergangenen Jahren“, sagt Jürgensen. In diesem Jahr sei das Niveau bis jetzt noch etwas niedriger. Im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit sei die aktuelle Situation nicht so ungewöhnlich, so der Klinikchef. „Wir sehen eher wieder eine Welle, wie wir das aus früheren Jahren schon kennen“.

Kinderarzt Reckert sieht es ähnlich. Das gegenwärtige Infektionsgeschehen unterscheide sich nicht groß von Erkältungswellen vor der Coronapandemie. „Wir sind das nur nicht mehr gewohnt“.