Viele ängstigen sich vor der Gefahr radioaktiver Strahlung. Welche Auswirkungen hat es, wenn Menschen lange Zeit einer niedrigen Strahlung ausgesetzt sind?  

Stuttgart - Das Wort radioaktiv hat Marie Curie geprägt, die berühmte Forscherin und doppelte Nobelpreisträgerin. Als sie 1934 im Alter von 66 Jahren an einer besonderen Form von Blutarmut starb, kam die Vermutung auf, sie sei ein Opfer ihrer langjährigen Forschung an radioaktiven Stoffen wie Radium geworden. Belegen konnte man es nicht. Heute könnte man die vermutlich beträchtliche Strahlendosis ermitteln, die sie abbekommen hat. Es ist viel geforscht worden über die Wirkung von radioaktiver Strahlung auf den Menschen. Doch weiterhin gibt es Grenzen des Wissens darüber, welche Auswirkungen es hat, wenn ein Mensch lange Zeit einer niedrigen radioaktiven Strahlung ausgesetzt ist.

 

Zum Beispiel beim maroden Versuchsendlager Asse in Niedersachsen: im Herbst vergangenen Jahres lösten Zahlen des Epidemiologischen Krebsregisters Niedersachsen Aufregung aus. Demnach waren zwischen 2002 und 2009 in der Samtgemeinde Asse zwölf Männer und sechs Frauen an Leukämie erkrankt. Zehn Frauen hatten Schilddrüsenkrebs bekommen. Wären diese Menschen rein zufällig krank geworden, dann hätten es nur 8,5 Leukämiefälle und 3,3 Fälle von Schilddrüsenkrebs sein dürfen. Es waren mehr als doppelt so viele.

Meldungen von erhöhten Leukämiezahlen gab es in der jüngeren Vergangenheit auch aus der Umgebung des Forschungszentrums Geesthacht und des Kernkraftwerks Krümmel. Der Verdacht, dass kerntechnische Anlagen für erhöhte Leukämieraten verantwortlich sind, ist alt, und mehrere Studien aus den 80er und 90er Jahren gaben ihm Nahrung.

Es gibt Hinweise, aber keine Beweise

Deshalb hat das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) 2003 eine der weltweit größten und aufwendigsten Studien in Auftrag gegeben, die Epidemiologische Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK). Das Deutsche Kinderkrebsregister in Mainz untersuchte alle Krebsfälle bei Kindern im Alter bis zu fünf Jahren aus den Jahren 1980 bis 2003, die in der Nähe von Kernkraftwerken wohnten. 1592 kranke Kinder wurden mit 4735 gesunden verglichen.

Das Ergebnis, 2007 vorgestellt, ist eindeutig: je näher ein Kind an einem Kernkraftwerk wohnt, desto höher ist das Risiko, an Tumoren oder Leukämie zu erkranken. Statistisch eindeutig ist das für einen Umkreis von bis zu zehn Kilometern, und zwar um alle 16 deutschen Kernkraftwerksstandorte. Umweltschutzorganisationen wie der BUND und Atomkraftkritiker wie die Ärzteorganisation IPPNW forderten Konsequenzen, von veränderten Methoden zur Messung der Strahlenbelastung bis hin zum Abschalten aller Atomkraftwerke. Und die amtlichen Strahlenschützer vom BfS bestätigen bis heute: "Bei allen bisherigen Überprüfungen der Studie wurden keinerlei Fehler bei der Durchführung festgestellt." Umso erstaunlicher mag für Laien die Schlussfolgerung klingen: Es gebe "Hinweise auf mögliche Zusammenhänge, aber keine Beweise". Das Amt könne "dort wohnenden Eltern nicht empfehlen, aus der Umgebung von Kernkraftwerken wegzuziehen".

Der Grund ist, dass die Beobachtungen der Studie zum heute bekannten Wissen über Strahlendosis und Wirkung nicht passen. "Dazu müsste die Belastung rund 1000-mal höher sein", heißt es beim BfS. Seit den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki 1945 untersuchen Strahlenforscher die Folgen für die betroffenen Menschen. Bis heute sterben unter ihnen mehr an Krebs, als statistisch zu erwarten wäre. Das Risiko endet also nie. Doch selbst über einen so langen Zeitraum und bei einer so großen Anzahl von betroffenen Menschen "kann man einen Effekt erst ab hundert Millisievert messen", sagt Horst Zitzelsberger, Leiter der Abteilung für Strahlenzytogenetik am Helmholtz-Zentrum München und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität.

Das Strahlenrisiko endet nie

Nur unter den Menschen, die damals mehr als das Fünfzigfache der natürlichen Hintergrundstrahlung in Deutschland abbekamen, also mehr als hundert Millisievert, beobachten die Forscher eine deutliche Erhöhung der Krebsrate. Dort, wo die Belastung viel niedriger ist, wie um die Asse oder Krümmel, müssen die Strahlenmediziner "extrapolieren", das heißt, die Zahl der möglichen Krankheitsfälle rechnerisch ermitteln. "Wir wissen aber nicht, wie wir das tun sollen", sagt Zitzelsberger.

Hat zum Beispiel ein Zehntel der Strahlendosis zur Folge, dass die Zahl der Krankheitsfälle auf ein Zehntel sinkt? Oder wäre diese lineare Extrapolation zu einfach? Beobachtungen dazu gibt es nicht, denn Leukämie, Schilddrüsenkrebs, Tumore und andere langfristige Strahlenfolgen können viele andere Ursachen haben. Dennoch: für die Forschung ist es völlig unplausibel, dass Gesundheitsschäden, die in Nagasaki und Tschernobyl erst bei dreistelligen Millisievertwerten aufgetreten sind, in Deutschland allein auf Strahlenwerte zurückgehen sollen, die weit darunter liegen.

Die Opfer der Atombombenabwürfe haben in einem kurzen Moment hohe Strahlendosen abbekommen, die den ganzen Körper betroffen haben. Im Unterschied dazu sind Menschen etwa um Tschernobyl längere Zeit niedrigerer Strahlung ausgesetzt gewesen und haben unter Umständen verstrahlte Lebensmittel zu sich genommen. "Das ist nicht das Gleiche", sagt Zitzelsberger. So müssen die Opfer von Tschernobyl und jetzt auch Fukushima eher mit Gesundheitsschäden durch radioaktives Jod in der Schilddrüse und Cäsium in den Muskeln rechnen. Die Schäden konzentrieren sich dabei auf einzelne Organe.

Hintergrund: Die Strahlenkrankheit und ihre Folgen

Hintergrund
Radioaktive Strahlung schädigt Körperzellen und kann Krebs und in hohen Dosen Verbrennungen und Erbgutschäden hinterlassen. Natürliche Strahlung und medizinische Untersuchungen erzeugen eine durchschnittliche Strahlenbelastung von vier bis in manchen Fällen zehn Millisievert.

Schäden
Bekommen Menschen Strahlung von mehr als hundert Millisievert ab, erhöht sich die Zahl derer merkbar, die an Krebs erkranken. Oberhalb von 250 bis 500 Millisievert zeigt sich die Strahlenkrankheit durch Kopfweh und Erbrechen. Eine Stammzelltransplantation kann manchen Betroffenen noch helfen.

Extremfälle
Ab einer Strahlenbelastung von 1000 bis 2000 Millisievert tritt Blutarmut (Anämie) ein. Der Großteil der Stammzellen ist zerstört. Haut und Magen-Darm-Trakt sind geschädigt. Ab 3000–4000 Millisievert stirbt die Hälfte der Betroffenen binnen 30 Tagen. 6000 Millisievert sind absolut tödlich.