Julia Neubergers Vorfahren stammen aus Heilbronn. Doch die Weinhändlerfamilie Rosenthal flüchtete im Dritten Reich nach England. Jetzt knüpft die Rabbinerin an ihre Wurzeln an – auch wegen des Brexits.

Heilbronn - Heilbronn - Die Baronesse Julia Neuberger – sie ist erst die zweite Rabbinerin Englands, tätig an der West London Synagoge – will die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Die Lady mit kaum aufzählbaren Verdiensten und Tätigkeitsfeldern in Politik und Wissenschaft, dafür auch geadelt und Mitglied des britischen Oberhauses, hat die Gründe dafür in einem Artikel in der englischen Tageszeitung „The Guardian“ beschrieben.

 

Neuberger hat eine besondere Beziehung zu Heilbronn: Ihre jüdischen Vorfahren, die Weinhändlerfamilie Rosenthal, stammen von dort. Als das Stadtarchiv vor einem Jahr die Lebensgeschichte ihrer Mutter herausgab, kam sie nach Heilbronn, um das Buch vorzustellen. Was die 66-Jährige bei diesem Besuch erlebte, sei – so schildert sie es in dem Beitrag – neben dem Brexit der Auslöser gewesen, sich ihren deutschen Wurzeln wieder anzunähern, ihr Deutschlandbild zu ändern – und einen deutschen Pass zu beantragen.

Das Buch basiert auf den Briefen von Neubergers Mutter

Besondere Brisanz erhält Julia Neubergers Vorgehen dadurch, dass ihr Schwager David Neuberger, Baron Neuberger of Abbotsbury, zur Zeit der Präsident des Supreme Court of the United Kingdom ist, also des höchsten englischen Gerichtes, das gerade darüber berät, ob allein die Volksabstimmung den Brexit rechtfertigt oder ob auch das Parlament gehört werden müsste.

Das Buch über die Familie Rosenthal basiert auf den Briefen von Julia Neuberges Mutter Liesel Rosenthal, verheiratete Schwab. Der Autor ist der in Heilbronn aufgewachsene Joachim Schlör, der seit 2006 Professor am Parkes Institute for Jewish/non-Jewish Relations an der Universität in Southampton ist und zuvor unter anderem am Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien gearbeitet hat. Zu dem Buch, vor allem aber dazu, dass Neuberger wieder Beziehungen nach Heilbronn knüpfte, war es gekommen, nachdem sie Schlör zufällig kennengelernt hatte: Sie bat den Heilbronner, für sie die auf Deutsch geschriebenen Briefe ihrer Mutter zu übersetzen.

Liesel Rosenthal wanderte 1937 nach England aus

Liesel Rosenthal konnte der Judenverfolgung des Dritten Reiches noch rechtzeitig entkommen: 1937 wanderte die Buchhändlerin nach England aus, mit einer Einreiseerlaubnis als Dienstmädchen. Sie konnte ihren Bruder und – drei Tage, bevor der Krieg ausbrach – auch ihre Eltern nach England holen. Liesel heiratete Walter Schwab, dessen Großvater schon 1906 aus Frankfurt nach England gekommen war, und engagierte sich fortan stark in der Flüchtlingshilfe. In dem „Guardian“-Artikel verweist Julia Neuberger auch auf die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel und fragt: Warum war es möglich, dass England während des Dritten Reiches 10 000 Kinder über den sogenannten Kindertransport aufnahm (jüdische Kinder konnten ohne ihre Eltern einreisen; unter den so Geretteten war auch Liesels Bruder) und jetzt „mit enormer Mühe“ nur ein paar Hundert Kinder aus Calais Aufnahme fänden.

In ihren Ausführungen gibt sie ein deutliches Bekenntnis sowohl zu Europa als auch zu ihrer englischen Heimat ab. Sie beschreibt, wie lange und wie heftig sie antideutsche Gefühle gehegt habe, wie schwierig die Reisen mit ihrer Mutter nach Heilbronn gewesen seien, besonders als Teenager. Sie erzählt auch, wie ihre Ressentiments wichen, als ihr bewusst wurde, wie Deutschland seine Vergangenheit aufarbeitet, unter anderem mit den Stolpersteinen. Mitentscheidend sei aber auch der der tiefe Eindruck gewesen, den ihr Besuch und der herzliche Empfang im Rathaus von Heilbronn bei ihr hinterlassen hatten: Da seien 150 Menschen gekommen, die nie zuvor etwas von ihr gehört hätten, schreibt sie ganz erstaunt. Schon bei dieser Gelegenheit hatte sie unmissverständliche Kritik an der englischen Haltung gegenüber Flüchtlingen geäußert.

Die Rabbinerin will ihr Deutsch wiederbeleben

Julia Neuberger legt Wert darauf, dass ihr Antrag auf einen deutschen Pass nichts mit dem englischen Antisemitismus zu tun habe, obwohl sich eine solche Diskussion auch an ihr entzündet. Gegenreden erhielt sie auch von jüdischen Mitbürgern unter Hinweis auf den Holocaust. Neuberger aber hat sich für den anderen Weg entschieden. Sie versucht, ihr Deutsch wiederzubeleben, das sie versteht, aber lange nicht sprechen wollte. Ihre 2001 verstorbene Mutter hingegen tat es bis zu ihrem Lebensende. Um genau zu sein: Sie sprach Heilbronner Schwäbisch. Und weil sie nie etwas fortwarf, was ja auch die Briefe für das Buch belegen, will Julia Neuberger nun weiter in den Unterlagen forschen – auch nach der Geburtsurkunde der Mutter für den Antrag auf den deutschen Pass.