Die eskalierenden Proteste in der Türkei spiegeln eine gesellschaftliche Vielfalt des Protestes wider, berichtet der Lyriker Achim Wagner, der zwischen Ankara und Berlin pendelt.

Istanbul - Was vor eineinhalb Wochen als überschaubarer Protest gegen ein Bauvorhaben der Regierung am Taksim-Platz im Istanbuler Gezi-Park begann, hat sich zu landesweiten Unruhen ausgeweitet. Bilder und Nachrichten vom heftigen Vorgehen der Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas verbreiteten sich über die sozialen Netzwerke, ließen den Prostest rasch wachsen und trugen ihn weiter in andere Städte, wo es nun schwere Auseinandersetzungen mit der Polizei gibt: Stadtzentren unter Tränengasbeschuss – Hausfrauen, die mit Kochlöffeln auf Töpfe schlagen und den Rücktritt des türkischen Premiers fordern, in abgelegeneren Vierteln.

 

Die Türkei erlebt seit Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung, dessen Zentrum Istanbul ist. Lange konnte sich die Regierung einer Unterstützung durch weite Teile der Bevölkerung sicher sein. Diese droht ihr nun wegzubrechen. Jüngere Vorhaben wie der Bau der dritten Bosporusbrücke finden die Kritik von Umweltschützern, die geplante Einschränkung des Alkoholkonsums stößt auf den Widerstand etwa der kemalistischen Opposition, und doch lässt sich allein damit dieser anhaltende Ausbruch des Unmuts nicht erklären. „Wir Türken warten und sitzen, fast egal, was geschieht, wir sind ein sehr geduldiges Volk“, sagt ein älterer Demonstrationsteilnehmer. „Aber wenn wir aufstehen, dann setzen wir uns so schnell nicht mehr hin.“

Umfangreiche Gentrifizierung in großen Städten

Die Unruhen zeigen die Schattenseiten des Erfolgs, in den großen Städten findet eine umfangreiche Gentrifizierung statt, alte gewachsene Nachbarschaften lösen sich auf, neue entstehen. Die Privatisierung staatlicher Betriebe führt zu Entlassungen und Lohneinbußen. Einzelhandelsgeschäfte in guter Lage weichen den Filialen großer Ketten. Menschen, die bisher von dem Aufschwung und dem Konsum profitiert haben, wie die Besitzer von Buden, die Alkohol verkaufen, fühlen sich und ihre Familien plötzlich in der Existenz bedroht.

Die betroffenen Menschen finden sich in den Demonstrationen zusammen mit den Mitgliedern der zahlreichen linken Splitterparteien, Schülern, Studenten, Umweltaktivisten, Feministinnen, mit Anhängern der kemalistischen Oppositionspartei aus der Ober- und Mittelschicht und mit immer mehr Menschen, die sich aus schlichter Solidarität den Protesten anschließen, fernab von politischem Aktivismus, Radikalität, von der Zugehörigkeit zu einer bestimmbaren politischen Richtung. Es ist diese letzte Gruppe, die dem gegenwärtigen Protest das Fundament bietet und das politische Gefüge zu verändern mag; was in den nächsten Tagen geschehen wird, ist kaum vorhersehbar. Sicher: die radikalen Protestler und die Polizei werden weiter in heftigen Auseinandersetzungen aufeinanderstoßen, die Luft der Innerstädte wird weiter tränengasgeschwängert sein, junge Menschen werden in den Trikots ihrer Lieblingsfußballvereine vor den Gasgranaten fliehen, sich in Seitenstraßen wieder treffen und sammeln.

Die Lehren der Regierung sind unabsehbar

Welche Lehren aber die Regierung aus den gegenwärtigen Ereignissen ziehen wird, lässt sich schlicht nicht prognostizieren. Bislang beharrt sie auf einem klaren Konfrontationskurs, auf einem extrem harten Vorgehen der Sicherheitskräfte, was wiederum den Prostest nur weiter anwachsen und radikaler werden lässt. Unklar auch, wie sich die streng religiösen Anhänger der Regierungspartei verhalten werden, ob sie ebenfalls auf die Straße gehen werden, gegen die Protestierenden.

Die sozialen Medien tragen den Protest

Wie auch immer die Unruhen ausgehen werden, die vergangenen Tage scheinen den Beginn einer wehrhaften Zivilgesellschaft in der Türkei zu markieren. Wie oben bereits erwähnt, sind es die sozialen Medien, in denen sich die Proteste ungefiltert spiegeln, wo von der jüngeren und mittleren Generation Videos und Fotos geteilt werden, ununterbrochen berichtet wird. Die beständig hochgehaltenen Mobiltelefone während der Kundgebungen als Symbol für die Präsenz und Relevanz des virtuellen Raums zeigen die enorme Bedeutung der Netzwerke, die diesen Raum zu Verfügung stellen. Über Tage fanden sich in den großen türkischen Medien keine Berichte über die gegenwärtigen Proteste. Sie wurden schlicht verschwiegen, was einerseits nur wieder zu weiterem Unmut führte und andererseits dem Einzelnen eine doppelte Bedeutung als Teilnehmer und Berichterstatter gibt.

Der Autor aus Ankara

Achim Wagner wurde 1967 in Coburg geboren. Er veröffentlicht seit 1997 Gedichte, Erzählungen, Romane und Libretti. 2009 führte ihn ein Stipendium nach Istanbul. Das Interesse an der türkischen Lyrik hielt ihn im Land. Seit 2010 wohnt er in Ankara und pendelt zwischen der türkischen und deutschen Hauptstadt. Am 12. Juli wird der Autor zu Gast sein in Stuttgart, im Literarischen Salon des Schriftstellerhauses.