Hausbesetzer, das sind junge Leute mit grünen Haaren und eigenartiger Einstellung. Das dachte die 72-jährige Berlinerin Doris Syrbe immer. Doch weil ihre Begegnungsstätte geschlossen werden soll, ist auch die Rentnerin zur Hausbesetzerin geworden.

Berlin - Doris Syrbe ist blass im Gesicht, und sie hat ganz schön abgenommen. Sie kriegt wenig Schlaf im Moment, wie alle hier im Haus. Der Kampf zehrt. Aber er geht weiter, da ist die Rentnerin knallhart. „Wir gehen hier nicht weg.“ Mit „Wir“ meint sie die wilden Alten aus Pankow, die bis vor Kurzem ein paar freundliche Senioren mit Freizeitgestaltung waren: montags Skat oder Spanisch für Anfänger, dienstags Gymnastik, mittwochs Gedächtnistraining – alles veranstaltet in einer kleinen Villa in bester Lage im Berliner Osten.

 

Jetzt ist die Villa ein besetztes Haus. So steht es in handgemalten Buchstaben auf einem Transparent am Gartenzaun der Seniorenbegegnungsstätte, so ist es auf den gelben Flugblättern zu lesen, die der Clubvorstand unterzeichnet hat. „Wir bleiben, bis der Bagger kommt“, heißt es da, und: „Lasst Euch nicht auf die Straße setzen.“

Doris Syrbe ist 72 Jahre alt, die Fernmeldeingenieurin hat 40 Jahre gearbeitet, und wenn man mal von den obligatorischen Aufzügen zum 1. Mai in der DDR absieht, dann hat sie noch nie an einer Demonstration teilgenommen. Hausbesetzer, das waren für sie junge Leute mit grünen Haaren und einer eigenartigen Einstellung.

Die Begegnungsstätte ist nicht mehr seniorengerecht

„Politisch war ich nie“, sagt Syrbe. Jetzt aber ist sie entschlossen, der Politik die Stirn zu bieten. Im März bekam der Seniorenclub Post vom Bezirksamt Pankow. Die Villa werde geschlossen, hieß es da, Ende Juni sei Schluss. Das Haus ein Sanierungsfall, nicht behindertengerecht, nicht seniorengeeignet – 2,5 Millionen Euro seien nötig, argumentiert der Bezirk, aber die mit 29 Millionen Euro verschuldete Kommune könne sich das nicht leisten. „Seitdem waren wir bei jeder Bezirksverordnetenversammlung, bei jedem Ausschuss“, sagt Doris Syrbe. „Wir haben demonstriert. Wir haben die Verantwortlichen gewarnt, das sie etwas zerstören, was viele Menschen brauchen. Und wir haben ihnen gesagt, dass wir das Haus notfalls besetzen. Die haben aber gedacht, die Alten trauen sich das nicht.“ Haben sie aber. Heimlich und sehr schnell organisierten sie am 29. Juni kurz vor der Schließung ihren Einzug, mit Gartenliegen, Schlafsack und Reisenecessaire.

Wutbüger stellt man sich anders vor

Doris Syrbe ist eine kleine Frau mit burgunderrot gefärbtem Haar. Ihren türkisfarbenen Lidschatten hat sie sorgsam aufgetragen. Man kann sich kaum vorstellen, dass sie gerne die Nächte auf dem provisorischen Lager im Gruppenraum verbringt. Eine Wutbürgerin denkt man sich anders. Sie spricht langsam, leise, nüchtern, fast kühl, als sie erklärt, warum sie die Schließung nicht akzeptieren möchte. Andere nennen den Seniorenclub ein Lebenswerk. So würde Doris Syrbe nicht formulieren.

Aber sie hat diesen Ort mit erfunden, damals, „als nach der Wende in der Gegend viele Leute über Nacht arbeitslos wurden“. Die waren damals zwischen 50 und 60. Das neue System hatte sie ausgespuckt, kein schönes Gefühl. Da gab es die Möglichkeit, vereinzelt in den eigenen vier Wänden zu sitzen und den Tagen beim Vergehen zuzusehen. Und es gab Leute wie Doris Syrbe, die wollten das auf keinen Fall und gründeten den Club. 180 Senioren kommen hier zusammen, in ihre wöchentlichen Gruppen oder nur auf Kaffee und Kuchen. Der Bezirk stellt das Haus. Der Rest wird von den Mitgliedern organisiert. „Wir haben immer alles gemacht. Wir organisieren das Café und die Kurse, wir sind hier ein Stück zu Hause“, sagt eine Seniorin. „Das Haus ist für uns lebenswichtig.“ Und wenn das wegfällt? „Das kann man mit uns nicht machen“, sagt Syrbe. „Es geht auch um die Möglichkeit, in Würde zu altern.“

Erst wohnte hier Erich Mielke, dann zog die Stasi ein

Es fallen viele solche grundsätzlichen Sätze in der Villa nahe dem Pankower Majakowskiring, in dem auch schon mal ein viel weniger guter Geist zu Hause war. Erich Mielke wohnte hier in den 50er Jahren, in den 70ern nutzte die Stasi das Einfamilienhaus. Ringsum residierte früher die Politbüroprominenz. Und anders als in jenen Zeiten reden die Menschen jetzt sehr laut, wenn sie über Politiker schimpfen, die für das Volk da sein müssten und nicht umgekehrt oder über die Milliarden, die für die Banken da seien statt für die Bürger.

Es ist oft von Solidarität die Rede in der Villa in der Stillen Straße. Und der Protest der Senioren zieht, anders als vielleicht vom Bezirk gedacht, immer weitere Kreise. Er setzt Menschen in Bewegung, die ihre bisher ganz allein zu Hause gefühlte Politikerferne endlich artikulieren wollen. Die Piraten waren da, die Linkspartei.

Mit Unterstützung hatten die Senioren gerechnet – von Leuten aus der Schachgruppe, von denen, die zum Englischunterricht kamen, von der Bridge-Runde. Aber doch nicht aus der ganzen Stadt, der halben Republik. „Das haut uns fast um“, sagt Brigitte Klotsche. Sie sitzt an einem Tisch im Flur, gelbes Sommershirt, konzentrierter Erzieherinnenblick. Vor sich hat sie drei Klarsichtmappen und ein dickes Buch. In das Buch haben sich Leute von überall eingetragen. „Der Kampf geht weiter“, schreibt einer mit DKP-Parteibuch. Darunter der Kommentar eines Rentners in steiler, alter Schrift: „Man soll sich nichts gefallen lassen.“ Seitenweise geht das so, sie werden bald ein neues brauchen.

Reporter aus Japan, Geschenke von den Nachbarn

Es ist die zweite Woche der Besetzung, die Tür zur Villa steht weit offen. Von der Küche her bahnt sich Eintopfduft seinen Weg in die oberen Etagen. Jemand hat Äpfel gebracht, ein anderer Blumen. Im Flur drängeln sich Reporter aus Japan, Tschechien, Frankreich. Ein paar Rentnerinnen übernehmen die Führung durchs Haus und berichten von dessen Geschichte. Hinter Brigitte Klotsche hängt ein Wochenplan an der Wand – Interviewtermine sind darin vermerkt. In den Klarsichtmappen liegen Infoblätter übers Haus und den Club.

Zwischen den Weißhaarigen steht Enrico, ein junger Mann, der in Pankow einen Zusammenschluss von Bürgerinitiativen gegen Haushaltskürzungen organisiert. Wer Enrico zuhört, der merkt schnell, er ist ein Protestprofi. Er ist gekommen, um, wie er sagt, diejenigen, die sich engagieren, davor zu schützen, vereinzelt zu werden. Ein anderer junger Mann, Student aus Düsseldorf, hat sich gleich einquartiert. Er ist Protestforscher. Es geht aber auch ganz praktisch: Zwei Jugendliche aus Neukölln waren vor ein paar Tagen da und haben Kuchen gebracht. Ein Pfarrer kocht regelmäßig Suppe, ein Arzt aus einem benachbarten Krankenhaus ist vorbeigekommen und hat seine Telefonnummer für den Notfall hinterlassen. Die Nachbarn aus den noblen Bauhausvillen bieten schon mal prophylaktisch Strom und Wasser an.

Ein Spiel auf Zeit

Wie es weitergeht in der Stillen Straße, das weiß noch keiner. Der Bezirk hat angeboten, die Gruppen auf andere Einrichtungen aufzuteilen. Das aber finden die Senioren nicht akzeptabel. Weil Leute Mitte 70, die jetzt mittags zu Fuß zur Gymnastik gehen, nicht zu einem Abendtermin mit dem Bus in eine entfernte Sporthalle fahren wollen. „Weil wir eine Gruppe sind, und aufeinander aufpassen. Wenn einer fehlt, wird nachgehakt, wenn einer was alleine nicht mehr schafft, bekommen wir das mit“, sagt Brigitte Klotsche.

Der Bezirk hat mitteilen lassen, dass vor Ende der Sommerpause Ende August vermutlich keine Entscheidung falle. Das Spiel auf Zeit schockt die Rentner erst mal nicht. „Natürlich bleiben wir“, sagt Doris Syrbe.