Trotzdem war der Erfolg zunächst gigantisch. Nach Berlin zog die Partei in vier weitere Landes- und etliche Kommunalparlamente ein, die Mitgliederzahl wuchs in Windeseile – so wie die Bugwelle der Aufmerksamkeit. In jeder Talkshow saß praktisch über Nacht ein Piratenpolitiker und sollte seine Meinung sagen: dabei war es egal, ob gerade über die neue Partei oder über Außenpolitik geredet wurde. Wie exotische Tiere bestaunte das Publikum die Politneulinge. Da saß die politische Geschäftsführerin Marina Weisband im langen Kleid und sprach eloquent über die Ukraine. Oder Johannes Ponader, der vermutlich nur noch wegen seiner bloßen Füße in Trekkingsandalen in Erinnerung ist.

 

Das Heilsversprechen der Piraten hieß: „Klarmachen zum Ändern“. Entstanden war die Partei, weil Menschen um ein freies Internet kämpfen wollten. Die Anziehungskraft lag dann aber darin, dass die Partei einen Anspruch formulierte, hinter dem sich Protestwähler und Weltverbesserer versammeln konnten: Demokratie künftig anders zu organisieren als die etablierten Parteien. 30 Jahre zuvor bei den Grünen war eine ähnliche, basisdemokratische Motivation auch Teil des Erfolges.

Ein Zauberwort der Piraten hieß: Transparenz. Schluss sollte sein mit „Geheimverträgen“ und „Hinterzimmerpolitik“. Angstfrei und ausgestattet mit der Arroganz der Anfänger starteten sie ihr Politikexperiment in Echtzeit. An Politik gingen sie heran wie Computernerds an Fehler im System: man versucht es so lange, bis es klappt. Die Folgen waren fürchterlich.

Zustand der Dauerüberforderung

„Letztlich“, sagt Julia Schramm, „befanden wir uns in einem Zustand der Dauerüberforderung.“ Eigentlich müssen Einsteiger lernen, wie Parlamentsarbeit funktioniert. „In anderen Parteien haben die Neuen jemanden, der sie coacht.“ Schramm war Mitglied des Bundesvorstands, sie galt als eines der Gesichter der Partei – und sie ist eines der Beispiele für jemanden, der sehr hart am eigenen Leib erfahren hat, was ein „Shitstorm“ bei den Piraten bedeutet. Die Partei wurde von allen Seiten beobachtet. Das Internet funktionierte da wie ein Big-Brother-Container, in den jeder hineinschauen konnte, und beobachten, wie sich die Partei immer mal wieder gründlich zerlegte. Das System ermöglichte zwar tiefgründige Debatten zu Einzelthemen wie Außen- oder Finanzpolitik. Aber wahrgenommen wurden der Streit und das Mobbing auf sozialen Plattformen – über die Verteilung von Ämtern, über den Umgangston, über Rechtsausleger in der Partei und über Sexismus. Der Ton war heftig. Das ist heute Alltag, war damals aber neu und wurde als piratische Eigenschaft interpretiert. Die ganze Republik ergötzte sich an Beleidigungen und Skandalen. Jemand hatte den Stammtisch, den jeder Ortsverein hat, ins Scheinwerferlicht gezerrt. Julia Schramm glaubte damals noch, das Experiment könne gut ausgehen: „Es wird sich eine neue Kulturtechnik der Debatte entwickeln“, meinte sie. Irgendwann kapitulierte sie, erlitt eine Phase der absoluten Erschöpfung, trat aus der Partei aus. Inzwischen hat sie ein Buch über die Kanzlerin geschrieben, promoviert und arbeitet für eine politische Stiftung in Berlin.