Am 1. September beginnt das neue Ausbildungsjahr. Trotzdem suchen Betriebe fast aller Branchen noch immer Lehrlinge – mit wachsender Verzweiflung. Der Nachwuchs wird mit steigender Energie umgarnt.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Böblingen - Der Landkreis Böblingen ist ein Sonderfall. Gemäß Statistik herrscht in ihm Lehrstellenmangel – ganz im Gegensatz zum bundesweiten Trend. Die Zahlen täuschen allerdings. „Das wird sich bereinigen“, sagt Doris Reif-Woelki, die Pressesprecherin der Arbeitsagentur. „Viele Schulabgänger orientieren sich in Richtung Stuttgart oder in den Landkreis Tübingen hinein“. Reif-Woelkis Grundbotschaft lautet: Noch nie hatten Schulabgänger so gute Chancen auf eine Lehrstelle wie im Jahr 2016, selbst jetzt noch. Schon seit zwei Jahren beobachten die Arbeitsvermittler, dass immer mehr Unternehmen bereit sind, auch Bewerber mit schlechten Schulnoten anzunehmen.

 

Der Grund ist schlicht der demografische Wandel. Die Zahl der Jugendlichen reicht nicht mehr aus, um alle Ausbildungsplätze zu belegen. Dies auch wegen des zunehmenden Strebens nach höherer Schulbildung oder akademischen Titeln. Bundesweit werden wohl rund 170 000 Ausbildungsplätze in diesem Jahr unbesetzt bleiben. So beklagt es jedenfalls der Deutsche Industrie- und Handelskammertag. „Den Unternehmen gehen die Bewerber aus“, sagt ihr Präsident Jochen Schweitzer. Auf etwa 14 000 Stellenausschreibungen sei nicht eine einzige Bewerbung eingegangen.

Immer mehr Betriebe sind zu Kompromissen bereit

Der Trend, „dass es immer schwieriger wird, gute Auszubildende zu bekommen, ist bei allen unseren Betrieben durchgängig erkennbar“, sagt Irene Ebert, die als Ausbildungsberaterin bei der IHK in Böblingen arbeitet. Immer mehr Betriebe seien bei der Suche nach Idealbewerbern zu immer größeren Kompromissen bereit. Offenkundig geben andere Firmenchefs gleich ganz auf. Im Jahr 2009 registrierte die hiesige IHK noch 790 Ausbildungsbetriebe. Im vergangenen Jahr waren es noch 744.

„Je nach Berufsbild werden auch die Ansprüche immer höher“, sagt Ebert. Um den bei jungen Männern allseits beliebten Beruf des KfZ-Mechatronikers zu erlernen, reicht das Talent im Umgang mit Werkzeug eben schon lange nicht mehr aus. Auch kaufmännische Berufe erfordern immer höhere Qualifikationen, wie die Lehre zum „Kaufmann für Büromanagement“ schon allein mit ihrer Bezeichnung nahelegt.

Andererseits streben immer mehr Kandidaten mit höherer Schulbildung auf den Ausbildungsmarkt. Auch hier ist das schleichende Sterben der Hauptschule unübersehbar. 2015 unterschrieben im Landkreis Böblingen fast doppelt so viele Abiturienten wie Hauptschüler einen Ausbildungsvertrag. Die Realschüler machen in etwa die Hälfte der Bewerber aus.

Selbst die Baugewerkschaft wirbt um Nachwuchs

Unternehmerorganisationen, Branchenverbände und das Arbeitsamt umgarnen den Nachwuchs mit steigender Energie. Um Betriebe zu überzeugen, schwächere Bewerber anzunehmen, bieten die staatlichen Arbeitsvermittler sogar eine sozialpädagogische Betreuung für Problemfälle an. Jüngst fühlte sich die Industriegewerkschaft Bau im Kreis berufen, mit einer Mischung aus Lock- und Notruf für Berufe wie Maurer oder Zimmerer zu begeistern. Was die Branche seit geraumer Zeit mit verstärktem Geldeinsatz versucht. „Bau-Azubis gehören zu den Topverdienern“, schrieb die Gewerkschaft. Schon im ersten Lehrjahr bekommen sie monatlich 755 Euro überwiesen, im letzten gar 1400 Euro – mehr als manche ausgelernte Kraft.

Was nur wenige lockt. „Fast alles, was mit körperlicher Arbeit zu tun hat“, sagt Reif-Woelki, ruht in der Angebotsstatistik wie Blei in einem Brunnenschacht. Weshalb die verzweifelte Suche nach Lehrlingen die Handwerksbetriebe der meisten Branchen eint. Aus Imagegründen wollen Jugendliche kein Gebäck oder Fleisch verkaufen. Vergleichbares gilt für die Pflegeberufe. Eine Lehre in der Gastronomie sortiert der Nachwuchs wegen der Arbeitszeiten aus, andere aus Geldgründen. „Medizinische Fachangestellte müssen Intelligenz mitbringen, mit Menschen umgehen, und sie müssen Verwaltungsarbeit erledigen können“, sagt Reif-Woelki, „da stimmt die Vergütung nicht“.

Wer ernsthaft sucht, der findet, auch noch nach dem Ende des klassischen Lehrjahres-Beginns am 1. September. Das ist die Kernaussage der Agentur-Sprecherin. „Wir werden bis weit in den Oktober Bewegungen haben“, sagt sie – weil Abiturienten, die Verträge unterschrieben haben, im Nachrückverfahren Studienplätze bekommen und wieder kündigen.