Der 18-jährige Raphael Gastler ist körperlich behindert. Seine Eltern wollten ihn immer an eine ganz normale Schule schicken, doch sie scheiterten an vielen Rektoratstüren. Akzeptiert wird er jetzt von ein klassischen Berufsschule.

Stuttgart - Als Raphael nach seiner Geburt aus dem Krankenhaus entlassen wird, sagen die Ärzte: „Sie können froh sein, wenn er sich später mal artikulieren kann.“ Die Frau von der Frühförderung meint: „Sie können froh sein, wenn er überhaupt einmal laufen kann.“ Von Lehrern hören sie später oft: „Der kann das nicht.“ Hätten Raphaels Eltern auf all diese Menschen vertraut, hätte ihr Sohn heute nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Doch sie spürten früh: Sie irren sich alle.

 

Bevor Raphael morgens aus dem Haus geht, reinigt er noch kurz die Kanüle, die in seiner Luftröhre steckt, mehr ist nicht nötig. Wenn man ihn dann so sieht, wie er im Klassenzimmer über seinen Notizen sitzt, ein junger Mann von 18 Jahren, die Kapuzenjacke in rot-weiß-blauen Streifen, das hellbraune Haar leicht wellig, scheint alles fast normal.

Seit dem vergangenen Jahr hat er seinen Hauptschulabschluss. Nun arbeitet er an der Berufsschule des Internationalen Bundes (IB) zielstrebig auf seine Mittlere Reife hin. Er ist der erste Behinderte, den die Schule in Stuttgart-Vaihingen aufgenommen hat.

Wenn Raphael Gastler spricht, klingt es, als hätte er eine große Kugel im Mund, ähnlich wie Schauspieler beim Sprechtraining. Wenn seine Lehrer ihn nicht verstehen, wird er nicht unruhig oder nervös. Es findet sich immer ein Mitschüler, der einspringt und seine Worte laut wiederholt. Während andere Klassenkameraden Cola trinken oder auf ihren Handys rumtippen, sitzt er in der ersten Reihe und passt auf. Raphael ist immer gut vorbereitet, meldet sich häufig, weiß die richtigen Antworten. Er hat sich für die Fachrichtung Gesundheit und Pflege entschieden. Am liebsten würde er später im sozialen Bereich arbeiten wie sein älterer Bruder, der ist Heilerzieher. Mit Pflegefällen kennt sich Raphael aus. Er war ja selber einer, benötigte viele Jahre lang eine medizinische 24-Stunden-Betreuung.

Raphael hat eine Zunge, die nicht in seinen Mund passt

Was Raphael davon abhält, deutlich zu sprechen ist eine große Wucherung im Gesicht und eine Zunge, die nicht in seinen Mund passt. Ein Teil schaut immer heraus. Er kam mit einem Lymphangion zur Welt, einer seltenen Krankheit. In seinem Körper lauern unzählige gutartige Tumore auf ihre Chance zu wachsen. Er hat die Zysten im Rachenraum, im Hals- und Brustbereich. Wie Weintrauben hängen sie zusammen. Viele sind nur reiskorngroß, doch sie können vom Reiskorn zur Tomate werden.

Dabei habe sie eine „Bilderbuch-Schwangerschaft“ gehabt, sagt seine Mutter Pia, 47. Doch die Diagnose kommt sofort nach der Geburt und trifft sie und ihren Mann Rolf völlig unvorbereitet. Anstatt mit den Eltern nach Weil der Stadt in das idyllisch gelegene Einfamilienhaus mit dem gepflegten Garten und dem beruhigend plätschernden Brunnen zu fahren, muss er ins Stuttgarter Olgäle, das für die nächsten Monate sein Zuhause wird.

In der Zeit auf der Intensivstation des Kinderkrankenhauses übersteht Raphael drei Chemotherapien, einen Herzstillstand und einen Versuch von Chirurgen, den größten Wucherungen mit dem Skalpell zu Leibe zu rücken. „Frisch nach der Operation hat es gut ausgesehen“, sagt Pia Gastler. Doch schon zwei Tage später ist die Momentaufnahme wieder verblasst. Dort, wo die Ärzte etwas entfernt haben, ist nur Raum für das entstanden, was dahinter war. Und am Ende steht die Erkenntnis, dass das alles nichts bringt.

Nach knapp 14 Monaten Hoffen, ihren Sohn endlich mitnehmen zu dürfen, beschließen auch die Ärzte, dass das Kind heim muss. Doch die Gefahr, sich zu verschlucken und zu ersticken ist sehr groß. Als der einzige sichere Weg erscheint den Medizinern ein Luftröhrenschnitt und eine Magensonde. „Mit allen Nachteilen, die dadurch entstehen“, sagt Rolf Gastler, 49. Raphael habe damals lediglich selbstständig sitzen können. Dass er heute allein zur Schule geht und seinen Realschulabschluss macht, grenzt an ein Wunder.

Der Kampf der Eltern

Vielleicht liegt es aber auch an etwas anderem: „Wenn Sie solche Prognosen hören und merken: das Kind kann mehr, dann kämpfen sie dagegen an“, sagt Pia Gastler. „Dieses Urteil nach Aktenlage haben wir nie akzeptiert“, sagt Rolf Gastler. „Wir waren keine einfachen Eltern. Für keinen“, sagt Pia Gastler. Wenn sie erzählen, ergänzen sie ihre Sätze wechselseitig, fallen sich nie ins Wort. Ein gut eingespieltes Eltern-Team, so scheint es.

Ihr Ringen um die Förderung ihres Sohnes hat vor 15 Jahren begonnen. Zu einer Zeit, als Inklusion noch ein Fremdwort ist, erkämpfen die Gastlers für Raphael einen Platz im Regelkindergarten, wo ihr Sohn immer von einer Pflegekraft begleitet wird. Raphael kann noch nicht sprechen. Da er das auch bis zu seinem achten Lebensjahr nicht hinbekommt, scheitern die Gastlers bei dem Versuch, ihn an eine reguläre Grundschule anzumelden. „Für die sei er zu schwach, hieß es. Die Sprachheilschule nahm ihn nicht, weil er noch nicht sprechen konnte, und die Hör- und Sehgeschädigtenschule lehnte ihn ab, weil er trotz seiner Winkelfehlsichtigkeit immer noch zu gut sehen konnte“, erklärt Rolf Gastler. Mal ist sein Sohn zu stark behindert, mal zu wenig. Immer wieder fällt er durch Raster.

Die Gastlers scheitern an vielen Rektoratstüren. Schließlich kommt ihr Sohn doch auf eine Schule für Körperbehinderte. Eine Schule, von der es heißt, der Lehrplan sei ganz normal und Raphael könne seinen Hauptschulabschluss machen. Als sie herausfinden, dass vier schwer geistig Behinderte in seiner Klasse sind, habe die Klassenlehrerin ihnen gesagt, der Unterricht würde sich eben nach den schwächsten Gliedern richten, erzählen die Eltern. Ohnehin bräuchten sie sich keine Illusionen zu machen, aus dem Raphael würde nichts werden. Diese Worte der Klassenlehrerin klingen ihnen noch heute in den Ohren. Ratlos, wie sie damals sind, lassen sie ihren Jungen weiter auf der Schule. Bis eine Referendarin ihnen im Vertrauen sagt, dass sie Raphael für unterfordert halte und eine viel geeignetere Schule für ihn wüsste.

Ärger mit der Krankenkasse

Die junge Frau erzählt den Eltern von einem Internat in Mössingen, der Dreifürstensteinschule, eine staatlich anerkannte Ersatzschule für Schüler mit körperlicher Beeinträchtigung. Dieses Mal sind es nicht die Lehrer oder das Schulamt, die den Gastlers das Leben schwer machen, sondern ihre Krankenkasse.

In sechs Jahren prozessieren sie acht Mal gegen die AOK, die jedes Mal einlenkt. Und doch stellt sich die Krankenkasse in jedem Schuljahr aufs Neue quer. Obwohl die Dreifürstensteinschule ein Internat für Behinderte ist, weigert sich die Kasse, die Fachkräfte zu bezahlen. „Sie begründete es damit, dass die Schule eine pflegerische Einrichtung ist und dafür aufkommen müsse“, erklärt Pia Gastler. „Die Schule hat wiederum gesagt, sie seien zwar eine Pflegeeinrichtung, aber bei Raphael handle es sich um Intensivmedizin und das könne sie nicht leisten“, sagt Rolf Gastler. Während die Eltern prozessieren und hohe Beträge investieren, beendet Raphael die Schule 2014 mit einem guten Hauptschulabschluss.

Dass ihnen am Ende ihre Rechtsschutzversicherung kündigt, darüber kann Pia Gastler heute nur lachen. Jahrelang war sie im Verein Intensivkinder aktiv. Sie weiß: wenn Eltern nicht kämpfen, die Kraft nicht aufbringen, dann haben ihre Kinder keine Chance. Wenn sie heute Eltern mit einem behinderten Kind kennenlernt, empfiehlt sie immer eine ganz normale Schule. „Ich würde ihnen sagen: Legt es darauf an“, sagt sie. Für Raphaels Eltern ist Inklusion ein Reizwort. „Inklusion ist eine tolle Sache. Jeder redet darüber. Aber wie sie geht, weiß keiner“, so das Fazit von Rolf Gastler.

„Ich fühle mich hier voll integriert“, sagt Raphael selbstbewusst. Das will schon was heißen an einer Berufsschule. Sie bildet den krassen Kontrast zu den behüteten Behinderteneinrichtungen, die Raphael bislang besuchte, Schulen an denen jeder für jeden Verständnis aufbringt. An der Berufsschule geht es handfester und lebensnaher zur Sache. „Ich hatte Angst davor, dass ich blöd angemacht werde“, sagt Raphael.

Um dem entgegenzuwirken, engagieren die Eltern für die ersten vier Schulwochen einen Integrationsassistenten. Bis zum ersten Schultag zittern sie sich durch den Sommer. Doch alles geht gut. Ohne Hemmungen erklärt Raphael den Mitschülern, was mit ihm los ist. Alle hätten ihn gleich akzeptiert, sagt er.

Raphael gehört nicht zu den Sorgenkindern in der Schule

Dass sie einmal mehr auf den 560 Euro für den Integrationsassistenten sitzen geblieben sind, ist für Pia Gastler zwar ärgerlich, „aber das haben wir in den 18 Jahren immer wieder erleben müssen. Schlimmer wäre gewesen, wenn Raphael die Hilfe nicht gehabt hätte.“

Die Schulleiterin Julia Müller sagt, eine Behinderung halte sie nicht grundsätzlich davon ab, einen Schüler anzunehmen. Raphael gehöre an der Schule auch nicht zu ihren Sorgenkindern. Klar, anfangs habe es schon ein paar Bedenken gegeben, „aber wir sind hier eine heterogene Schülerschaft gewohnt“, sagt Müller. Sie stellt klar: die IB-Einrichtung in Vaihingen ist keine Inklusionsschule, auch barrierefrei ist das in die Jahre gekommene Gebäude nicht. Jugendliche, die im Rollstuhl sitzen, sollten sich ein besseres Angebot suchen.

„Raphael gehört zu meinen besten Schülern“, sagt Thomas Krüger. Der Klassenlehrer und Altenpfleger steht in Polohemd und lässiger Jeans vor seiner Klasse. Acht Schüler sind an diesem Freitagmorgen da. Zum Schuljahresbeginn waren es noch mehr als 30. Aber an Berufsschulen wie der in Vaihingen trennt sich die Spreu recht bald vom Weizen. Wer lernen will, der bleibt. Wenn man so will, gehört Raphael zum Weizen. „Er übernimmt Klassensprecheraufgaben und traut sich auch sonst alles zu“, sagt Thomas Krüger.

Ersticken ist die größte Gefahr für den jungen Mann

Auf dem Programm stehen praktische Übungen. In der Theorie haben die Schüler beim Thema Schaukeleinlauf noch angeekelt die Gesichter verzogen. Jetzt am Pflegebett lässt Raphael sich von einer Mitschülerin einen Thromboseverband anlegen. Berührungsängste gibt es keine. Bei einer anderen Übung greift Raphael zu einem Igelball, massiert damit einem Mitschüler das Bein: Körperwahrnehmung nach einem Schlaganfall. Gegen Ende der Stunde räumt er unaufgefordert auf. Andere Schüler gehen lieber eine rauchen.

Manche seiner Kollegen hätten Ängste geäußert, was denn wäre, wenn Raphael sich verschluckt und dann seine Kanüle rausfalle, sagt Krüger. Noch heute ist Ersticken die größte Gefahr für Raphael. Doch Krüger nahm ihnen die Ängste, das Risiko sei gering. Und wie realistisch sieht er Raphaels Wunsch, Pfleger oder Erzieher zu werden? „Es gibt auch niederschwellige Zugänge zur Pflege. Er kann erst mal Pflegehelfer werden.“

Wer weiß, vielleicht macht er das. Raphael, der junge Mann, dem prophezeit wurde, er werde möglicherweise nicht mal lernen, sich zu artikulieren. Vielleicht geht er aber auch einen anderen Weg. Oder einen Umweg. Dass es manchmal nicht anders geht, haben ihm seine Eltern beigebracht. Und dass man trotzdem ans Ziel kommen kann.