Geht bei der Besteuerung von Daimlers Auslandsmitarbeitern alles mit rechten Dingen zu? Nach einer Niederlage des Konzerns vor Gericht kommt eine Debatte darüber in Gang.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Es gilt als ungeschriebenes Gesetz bei Daimler: Wer Karriere machen will, sollte eine Weile im Ausland gewesen sein. Volker H. (56) hätte also gute Karten haben müssen: Der Ingenieur arbeitete für den Konzern bereits in Spanien, in China und fünf Jahre für die Tochter Evobus in den USA, wo er beim Aufbau einer Busfabrik half. 2011 kehrte er von dort als Teamleiter nach Mannheim zurück.

 

Seither geht es für ihn nicht mehr recht voran. Das könnte auch daran liegen, dass er gegen ein anderes ungeschriebenes Gesetz verstoßen hat: „Den Daimler verklagt man nicht.“ H. hat den Autokonzern verklagt, gleich durch drei Instanzen, und nach zwei Niederlagen am Ende sogar gewonnen. Es ging um wenige Tausend Euro, aber zugleich um grundsätzliche Fragen: Geht bei der Besteuerung von Mitarbeitern, die Daimler ins Ausland entsendet, alles mit rechten Dingen zu? Oder vergreift sich der Konzern an privaten Einkünften der „Expats“, ohne dass diese das bemerken? Und schaut der Gesamtbetriebsrat dabei untätig zu, obwohl er eigentlich mitreden dürfte oder sogar müsste?

Modell zum Ausgleich der Steuersysteme

Gegenstand des Rechtsstreits war eine Regelung, die alle Mitarbeiter mit dem Zusatzvertrag für ihren internationalen Einsatz akzeptieren. Sie werden von Daimler nur mit der – hypothetischen – Steuer belastet, die sie zu zahlen hätten, wenn sie weiter in Deutschland beschäftigt wären. Die tatsächlich im Ausland oder daheim anfallende Steuer übernimmt der Konzern. Dadurch sollen steuerliche Nachteile durch den internationalen Einsatz vermieden werden. Etwaige Vorteile bei einer niedrigeren Belastung werden indes auch ausgeglichen. So weit, so üblich und unstrittig; auch andere Unternehmen verfahren so.

Im Fall von H. ging es um private Einkünfte, die er während seines USA-Aufenthaltes erzielte, durch realisierte Kursgewinne. Auch diese sind in die Regelung einbezogen, offenbar aus Gründen der Vereinfachung. Anders als die Steuern, die im Zusammenhang mit dem Job abgeführt wurden, fordert Daimler sie hinterher vom Beschäftigten zurück. Ermittelt wird dieser Betrag nicht nach dem tatsächlichen Steuersatz für die Privateinkünfte, sondern nach einem sogenannten Durchschnittssteuersatz. Dieser ergibt sich, indem das Gesamteinkommen durch die Gesamtsteuern geteilt wird – kann also höher oder niedriger sein. Auch diese Methode wird nicht nur von Daimler, sondern auch von anderen Konzernen angewandt.

Gut 3000 Euro zu viel Steuern erstattet?

Aber ist sie deswegen korrekt? Das wurde offenbar noch nie grundsätzlich hinterfragt. Wer für die Firma ins Ausland geht, hat sich um Wichtigeres zu kümmern als um fiskalische Feinheiten. H. indes machte sich ans Nachrechnen und stieß auf eine Diskrepanz. Der von Daimler – genauer: der weltweit beauftragten Steuerberatungsgesellschaft Ernst & Young – zurückgeforderte Steuerbetrag war etwa 3410 US-Dollar (damals 3200 Euro) höher als die tatsächlich abgeführte Steuer auf seine Kursgewinne. Durfte es wirklich sein, dass der Konzern somit sein Privatvermögen schmälerte? Nein, befand der Ingenieur und verweigerte insoweit die Rückzahlung. Per Klage vor dem Arbeitsgericht wollte er feststellen lassen, dass er dazu nicht verpflichtet sei. Daimler beharrte auf seiner Sicht, seit 2015 wurde prozessiert.

Mit der komplizierten Materie taten sich die Richter erkennbar schwer. Erst verlor H. vor dem Arbeitsgericht in Mannheim. Als ehrenamtliche Richter saßen ihm dort zunächst zwei Daimler-Kollegen gegenüber, die dann wegen Befangenheit ausgetauscht wurden. Die nächste Niederlage kassierte er vor dem Landesarbeitsgericht. Es wies seine Berufung zurück, ließ aber Revision zu. Begründung: Die Rechtsfrage sei „von grundsätzlicher Bedeutung“. Beim Bundesarbeitsgericht in Erfurt wurde H. im Mai 2017 schließlich für seine Hartnäckigkeit belohnt.

Einlenken nach Wink des Gerichts

In der Verhandlung gab die Vorsitzende des zuständigen Senats laut Protokoll einen klaren Wink an Daimler: Es spreche alles dafür, dass die Richtlinie zur Durchschnittssteuersatzmethode „den Kläger unangemessen benachteiligt“. Sie ermögliche es dem einzelnen Arbeitnehmer nämlich nicht nachzuweisen, dass der auf die Privateinkünfte entfallende Steueranteil niedriger sei als errechnet; die Klage dürfte daher Erfolg haben. Daraufhin lenkte Daimler ein, wohl auch, um ein Grundsatzurteil zu vermeiden: Die geforderten 3410 US-Dollar stünden dem Konzern nicht zu, wurde per „Anerkenntnisurteil“ entschieden, ohne weitere Ausführungen zum Sachverhalt und zur Rechtslage.

Daimler wollte sich zu der Entscheidung und möglichen Konsequenzen nicht näher äußern. Es handele sich um einen „Einzelfall, der rechtskräftig abgeschlossen ist“, sagte ein Sprecher des zuständigen Personalvorstands Wilfried Porth. Auch aus Datenschutzgründen könne man dazu nicht mehr sagen. Die Regeln würden allen Mitarbeitern vor der Entsendung erläutert, fügte er hinzu; sowohl der Steuerausgleich insgesamt als auch die Durchschnittssteuersatzmethode seien allgemein anerkannt. H. wollte sich auf StZ-Anfrage nicht äußern. Intern soll er eine Neuregelung und umfassende Konsequenzen angeregt haben, zumal Tausende von „Expats“ betroffen sein könnten. Doch dies habe Porth brüsk abgelehnt.

Gesamtbetriebsrat kontaktiert die Firmenleitung

Nun wird der Vorstand sich doch noch einmal mit dem Thema befassen müssen. Mit seiner Klage wollte H. auch klären lassen, ob die Steuerregeln nicht unter die Mitbestimmung fielen – allerdings ohne Erfolg. Bisher hatte sich der Gesamtbetriebsrat dafür wohl nicht als zuständig betrachtet, obwohl er immer wieder mit Fragen von Auslandsmitarbeitern konfrontiert wurde. Auch ein Vorstoß von H. beim Vorsitzenden Michael Brecht blieb lange ohne Resonanz. Vergeblich verwies er auf mehrere von ihm in Auftrag gegebene Rechtsgutachten, nach denen die Regeln eindeutig mitbestimmungspflichtig seien. Erst als die StZ zu recherchieren begann, tat sich plötzlich etwas. Anlässlich des Urteils kläre der Gesamtbetriebsrat nun „die Frage, ob die Mitbestimmung im Rahmen der ‚Global Going Richtlinie‘ besteht“, sagte eine Sprecherin Brechts; dazu sei man bereits auf die Daimler-Unternehmensleitung zugegangen.

Reichlich spät, findet die Daimler-Betriebsrätin Ulrike Schwing-Dengler von der Christlichen Gewerkschaft Metall (CGM). Sie kritisiert nicht nur die lange Untätigkeit „und das vielsagende Schweigen“ des Gesamtbetriebsrats. Zu lange habe dieser die Chance verstreichen lassen, Versäumnisse bei der Wahrung der Mitbestimmung wiedergutzumachen. Auch die Reaktion von Daimler sei nicht angemessen, rügt Schwing-Dengler: Nach einem „sicherlich auch für Sie in mancher Hinsicht anstrengenden Verfahren“ solle H. endlich Ruhe geben – dieser Rat aus Porths Personalbereich greife zu kurz. Aus Sicht der CGM gehe es nicht um einen vernachlässigbaren Einzelfall, sondern um „ein Urteil mit grundsätzlicher Signalwirkung“. Das Verfahren habe „gravierende Fragen“ zur Besteuerung von privaten Einkünften der Auslandsmitarbeiter aufgeworfen. Die notwendige Debatte darüber sei „keineswegs beendet“, folgert Schwing-Dengler.

IG Metall-Fachfrau als Richterin involviert

Bei der IG Metall hat sie noch nicht einmal angefangen. Fragen zu der Steuerpraxis seien bisher nicht an die Gewerkschaftszentrale herangetragen worden, sagt eine Sprecherin; daher könne man nichts dazu sagen. Dabei gibt es in Frankfurt eine Fachfrau, die mit der Thematik aus mehrerlei Blickwinkeln gut vertraut sein dürfte: Sibylle Wankel, die Chefjustiziarin der IG Metall, seit 2016 auch als Arbeitnehmervertreterin im Aufsichtsrat von Daimler. Zudem ist Wankel ehrenamtliche Richterin beim Bundesarbeitsgericht – just in jenem Senat, der für H.s Klage zuständig war. Sein Anwalt wollte sie erst als befangen ablehnen, zog den Antrag dann aber wieder zurück.

Volker H. mag Genugtuung über den juristischen Erfolg empfinden, seine Karriere aber hat dieser nicht gerade befördert: Er ist bei Evobus weiter als Teamleiter tätig, aber ohne Team. Müssen Mitarbeiter, die gerichtlich gegen den Konzern vorgehen, also mit Nachteilen rechnen? Die Frage der StZ ließ Daimler unbeantwortet.