Eine Fotoausstellung am Hauptbahnhof Stuttgart mit Bildern von den Metropolen der Welt gibt den Reisenden Rätsel auf.

Stuttgart - Die mit großem Abstand meistbesuchte Ausstellung in Stuttgart ist wohl auch die am wenigsten beachtete und noch dazu eine der rätselhaftesten: die Foto-/Text-Installation „Mega-Cities“, zu sehen im Hauptbahnhof zwischen der alten Halle und den neuen Bahnsteigen. Eine fünfstellige Zahl von Passanten dürfte täglich an diesen Bildern vorbeikommen – und vermutlich über sie hinwegsehen. Denn durch diesen Durchgang über dem künftigen Bautrog von Stuttgart 21 hetzt man mit Tunnelblick.

 

So ist die mutige Entscheidung für diesen Ausstellunsgort die erste von vielen bemerkenswerten, die der Veranstalter getroffen hat. Womit wir bei einem der erwähnten Rätsel sind. Wer dieser Veranstalter ist, bleibt im Dunkeln, ebenso wie Intention und Dauer der Ausstellung. Die Stadt erklärt sich auf Anfrage für nicht zuständig, die Bahn erteilt überhaupt keine Auskunft. Kleingeister mögen jetzt denken: Keine Antwort ist auch ’ne Antwort! Sensible Besucher dagegen ahnen, dass diese subtile Kommunikationsstrategie bereits Teil des Kunstwerks ist. Dann wer Fragen offen lässt, der signalisiert – man beachte die eisenbahnaffine Qualität dieses Vorgangs! – dem Fragenden, dass ihm, dem Betrachter, die volle Freiheit des Rezipienten gebührt. Die Kunst, so will die Bahn uns sagen, ist autonom. Sie spricht für sich selbst, man muss sie nur wahr- und ernstnehmen. Derart ermutigt haben auch wir einen genaueren Blick gewagt, und eine Intervention im öffentlichen Raum entdeckt, die ihresgleichen sucht.

Kunst und Leben werden eins

So provoziert bereits das erste Poster mit einem nur vermeintlich nüchternen Text über Mega- und Metacities, also Siedlungsgebilde von 20 Millionen und mehr Einwohnern. Der Subtext lautet ganz offenbar: So, Stuttgart, sieht deine Zukunft aus! Denn die raffinierte Hängung der Fotografien ermöglicht Ausblicke auf die S-21-Baustelle. Zwischen den Bildern öffnen sich reale Fenster, so dass Kairo und Seoul, Moskau und Lagos, Paris, Kinshasa und Mexiko-City quasi verschmelzen mit Gleis10-Ruinen, Baggern im Dreck und schwäbischen Bauarbeitern in Sicherheitswesten. Hier ist die stolze Forderung aller Avantgarden radikal eingelöst: Kunst und Leben werden eins.

Die ausgestellten Bilder selber mögen zwar nicht eben den Höhepunkt zeitgenössischer Fotografie markieren; eher handelt es sich um ein Sammelsurium der Eiffeltürme, Big Bens und ähnlicher Motive aus Tourismus-Katalogen oder Hobbyknipser-Foren. Doch dies ist nur ein weiterer Beleg für die subersive Qualität dieser Ausstellung. Denn indem sie Klischees aufruft, appelliert sie de facto an die emanzipatorische Macht der Fantasie. Lasst euch nicht vormachen, dies hier sei die ganze Wirklichkeit, wollen die Metropolen-Abziehbilder eigentlich mitteilen, seht stattdessen hinter die Kulissen der Werbeindustrie!

Wer diese Deutung für allzu kühn hält, betrachte nur das Motiv „Kalkutta“: Eine große Menschenmenge vorwiegend weiblichen Geschlechts befindet sich auf einer Treppe, die in eine Wasserfläche übergeht, so dass viele der Abgebildeten in voller Montur buchstäblich baden gehen. Am oberen Bildrand blättert eine Wäschereklame symbolträchtig von der Wand; eine der zahlreichen Plastiktüten, die die Frauen mitführen, trägt ganz deutlich eine Jeans-Reklame; und der einzige Mann steht mit grimmiger Miene mitten im Trubel.

Ein Gesamtkunstwerk

Die konsumkritische Botschaft dieser hochsymbolischen Aufnahme ist evident: Wenn Primark und Konsorten ihr ausbeuterisches Geschäftsmodell weiter ausdehnen (Kalkutta! Indien! Textilbranche!), werden nicht nur die von Shopperinnen mitgeschleppten Männer in den Malls dieser Welt düster dreinschauen, sondern uns allen steht dann bald das Wasser bis zum Hals. Doch damit nicht genug. Die letztgültige Aussage dieser kritischen Klischeeakkumulierung ergibt sich durch die Verortung im Kontext von Stuttgart 21: Wenn dereinst der Talkessel absäuft, weil ein Tunnelbohrer versehentlich die Mineralwasserströme in die Baugrube umleitet, dann wird es das metaphorische Potenzial der Kunst sein, welches uns über die Niederungen des Alltags hebt.

Und so zeigt das früher so umstrittene Bahnprojekt dank dieser verdienstvollen Ausstellung nun endlich seinen wahren Zweck: Es ist kein Immobilien- und schon gar kein Verkehrsprojekt, sondern ein ausgeklügeltes Gesamtkunstwerk – und erfüllt somit voll und ganz das Versprechen seines so oft verhöhnten, in Wahrheit jedoch tief versöhnenden Mottos: Das neue Herz Europas, es macht die Bahn frei für Kunst!