Radioaktiver Müll muss Hunderttausende Jahre sicher gelagert werden. Eine Ausstellung in Schaffhausen versucht die Frage zu veranschaulichen, welche Aufgabe sich die Menschen des Atomzeitalters damit aufgeladen haben.

Schaffhausen - Vor einer Million Jahren war die Welt mitten im Pleistozän angekommen. Dieses Zeitalter der Erdgeschichte begann vor gut 2,588 Millionen Jahren und endete etwa um 10 000 vor Christus. Dann begann das Holozän, die bis heute dauernde Jetztzeit. Geprägt war das Pleistozän durch einen Wechsel von Kalt- und Warmzeiten. In diese Ära fällt auch die letzte Eiszeit, die von vor 115 000 Jahren bis vor etwa 11 000 Jahren dauerte und von eine Periode der Zwischen-Eiszeit abgelöst wurde, in der wir gegenwärtig leben. Zehntausende von Jahren lagerten Kilometer dicke Eisschichten auf Süddeutschland und den Alpen. Später durchstreiften Mammuts, Säbelzahnkatzen und vorzeitliche Pumas die Ebenen Eurasiens, jagten Riesenhirsche, Bisons und die Vorläufer der heutigen Pferde. Zum Ende des Pleistozäns entwickelte sich vermutlich um 160 000 vor Christus auch in Afrika der Homo sapiens, der Vorläufer des Menschen moderner Prägung aus dem Homo erectus.

 

Der Blick in die entfernte Vergangenheit relativiert die Epoche der Kulturgeschichte der Menschheit, die seit lediglich 30 000 Jahren währt. Auch die Zeit von fast 200 000 Jahren (oder je nachdem 300 000 oder 500 000 Jahren), die der Homo sapiens auf Erden wandelt, schrumpft beträchtlich zusammen in Betrachtung dieser Spanne von Hunderttausenden Jahren, und erst recht angesichts der auf 4,5 Milliarden Jahre geschätzten Erdgeschichte.

Rückschau mit Blick auf das Atomzeitalter

„Langzeit und Endlager“ heißt eine Sonderausstellung im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen. Sie vermittelt dem Betrachter eine Vorstellung dieser gewaltigen Zeiträume. Es ist keine unschuldige Rückschau möglich, sie geschieht aus dem Blickwinkel des Atomzeitalters und ist mit der schweren Hypothek belastet, eine Antwort auf die bisher offene Frage zu geben, wie die Menschheit jemals die Millionen Tonnen aufgehäuften nuklearen Abfalls „sicher“ entsorgen soll.

Das Atomzeitalter ist kaum hundert Jahre alt. Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten Forscher wie Henri Becquerel (1852-1908) und das Ehepaar Pierre (1859-1906) und Marie Curie (1867-1937) die radioaktive Strahlung. Kein halbes Jahrhundert dauerte der Weg zur Kernspaltung und zu Bau und Zündung der Atombombe 1945. Eine Entwicklung, die eng mit deutschen Forschern verbunden ist, denn Deutschland war in den 1920er Jahren bis zur Machtübernahme Hitlers die Hochburg der Atomphysik. Deutsche Forscher wie der Chemiker Otto Hahn (1879-1968), der zahlreiche Isotope entdeckt hatte, der Physiker Albert Einstein (1879-1955), bekannt für seine bahnbrechende Relativitätstheorie, und Werner Heisenberg (1901-1976), der die Unschärferelation und damit eines der fundamentalen Gesetze der Quantenmechanik formulierte, waren an den Forschungen beteiligt.

Die Ausstellung zeigt, welch schweres Erbe wir, die Menschen des Atomzeitalters, den nachfolgenden Generationen hinterlassen werden. Denn eine atomare Endlagerstätte für schwach und mittelaktiv strahlende Abfälle muss den äußeren Einflüssen mindestens 100 000 Jahre standhalten. Bei hoch radioaktiven Überresten soll die Garantie eine Million Jahre gelten.

Sicherheit über eine Eiszeit hinweg?

Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Materialien unbeschadet eine Eiszeit überbrücken müssen. Kann das gelingen? Können wir den Versicherungen der Politiker, der Aufsichtsbehörden und der Atommanager glauben? Oder sind die Beteuerungen nur eine Ausgeburt menschlicher Hybris? Diese Zweifel macht die Ausstellung manifest. Sie sind die zentrale Botschaft der Ausstellungsmacher Peter Jezler und Urs Weibel. Der Museumsgast beginnt seine Zeitreise durch die letzten 250 Millionen Jahre Erdgeschichte am Ende des Karbonzeitalters vor etwa 300 Millionen Jahren, als Granite und Gneise als die ältesten vorhandenen Sedimentgesteine zwischen Schwarzwald, Rhein und Bodensee zu Tage traten. Mitteleuropa befand sich zu jener Zeit etwa in Äquatornähe. Tektonische Bewegungen und ein intensiver Vulkanismus führten zu Hebungen, Senkungen und Brüchen im noch jungen Gebirge der Alpen und seines Vorlandes.

Es vergingen weitere 125 Millionen Jahre, bis um rund 175 Millionen Jahre vor Christus in den nur 20 bis 50 Meter tiefen Gewässern der Opalinuston entstand. Der verfestigte Meeresschlamm gilt wegen seiner Festigkeit und Undurchlässigkeit als ideales Gestein für ein Atomendlager. Eine 100 Meter dicke Schicht findet sich heute etwa in dem von Schaffhausen knapp zehn Kilometer entfernten Ort Benken in einer Tiefe von 600 Metern, aber auch auf deutscher Seite bei Engen und Gottmadingen. Als Gebiet für ein atomares Endlager ist auch ein Streifen nördlich von Biberach bis hoch nach Ulm möglich (siehe Karte). Der Bezug zur politischen Brisanz und zur Schweiz und dem Kanton Schaffhausen als Raum ist ein weiterer roter Faden, der sich durch die Ausstellung zieht und der zugleich ihre Stärke und Schwäche ausmacht. In seiner örtlichen Verankerung zeigt die Schau die Auswirkungen der Atomkraft auf, mit welcher der Mensch nach Auffassung der Ausstellungsmacher einen „faustischen Pakt“ geschlossen hat. Doch dieser Pakt ist universell und wirkt weit über die Region hinaus.

Nachrichten an eine ferne Zeit

Wenn unsere Nachfahren einmal unsere kurze Strecke des Erdzeitalters benennen wollen, werden sie an der epochalen, bahnbrechenden Erfindung der Kernspaltung nicht vorbei können. Aber bis wann werden nachfolgende Generationen unsere Botschaften und Hinweise auf die gefährliche Hinterlassenschaft entziffern? Wird es ausreichen, steinerne Stelen aufzustellen? Oder werden diese von den neuen Eiszeitgletschern zermalmt werden? Wird man die Sprache noch verstehen, die Symbole für den Tod noch deuten, das Zeichen für Radioaktivität dechiffrieren können? Viele Zeugnisse der Vergangenheit sind für immer verloren oder bleiben unverstanden. Die Bibliothek von Alexandria verbrannte, Tacitus’ Annalen sind nur in einer einzigen Handschrift überliefert, Ciceros Staatsschrift De re publica wurde 1820 zufällig als Palimpsest entdeckt.

Werden wir also auf das Nonverbale ausweichen müssen, um auf die Gefahren aufmerksam zu machen? Auf die Mystik beispielsweise, und eine Atompriesterschaft gründen, die durch die Jahrtausende Angst schüren soll? Sollen wir um die Lagerstätten herum Atomblumen pflanzen oder Katzen züchten, die bei Radioaktivität ihr Fell verändern? Wie grotesk die Vorschläge der Wissenschaftler auch erscheinen mögen, sie zeigen doch in ihrer Übertreibung unsere ganze Rat- und Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts der Anforderung. Noch nie war die Menschheit in ihrer Geschichte gezwungen, über Jahrhunderte eine so große Aufgabe zu lösen.

Offen nach beiden Seiten?

Das Atomzeitalter dauert an. Wer nach der Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011 geglaubt hatte, sein Ende sei gekommen, täuscht sich wohl. Zu verlockend ist die friedliche und auch die kriegerische Nutzung des Spaltvorgangs. Zwar haben Länder wie Deutschland und die Schweiz den Atomausstieg beschlossen, aber in Frankreich sind weiter 58 Reaktoren am Netz. Großbritannien hat mit Hilfe chinesischer Investoren soeben den Bau eines neuen Meilers im südwestenglischen Hinkley Point bis 2023 beschlossen.

Was hat die Spaltung des Atoms dem Menschen gebracht? Einer Haltung pro oder kontra Atomenergie wollen sich die Ausstellungsmacher bewusst entziehen. Ebenso der Frage, ob und wie eine Endlagerung des atomaren Mülls leistbar ist. Ihre Ausstellung solle „nur deskriptiv“ und offen nach beiden Seiten den Gegnern und den Befürwortern (und Profiteuren) der Kernkraft Platz geben, sagt Jezler. Doch die Zusammenschau belässt diese Offenheit nicht. Werbung für die nukleare Technik macht sie nicht. Sie vermittelt mehr als bloße Skepsis gegenüber der Nutzung der Atomkraft. Eher stellt sie die größtmögliche und radikalste Kritik daran dar.