Der Werkbund hat rund vierzig Fotografen zu einer Spurensuche mit der Kamera in Stuttgart aufgerufen. Das Ergebnis ist die sehenswerte Schau „Stadtraum in Bewegung“ im Kunstbezirk.

Stuttgart - Gebautes bewegt sich nicht – daher der Name Immobilie. Aber Stuttgarter wissen Bescheid. In einer Stadt, in der die normalen Verhältnisse sich gerade umkehren, ist das Automobil durch schiere Masse zunehmend zum Stillstand verdammt, während der Stadtraum munter in der Gegend herumwedelt. Große Kreuzungen im Innenstadtbereich ändern nahezu im Wochenrhythmus ihren Verlauf, so dass Autofahrer sich im Schnittmuster-Wirrwarr weißer und gelber Fahrbahnmarkierungen andauernd vor Rätsel gestellt sehen. Lost in Transition.

 

Wo gestern noch vertraute Gebäude standen, klaffen heute vom Bagger gerissene Lücken und erheben sich morgen Neubauten, die man sich weder merken kann noch will. Ihre Haltbarkeitsdauer überschreitet gefühlt ohnehin kaum mehr die eines Joghurts. Altstadtreste hat es schon nach dem Krieg hinweggerafft, „inzwischen ist man längst beim Austausch der Neuzeit angekommen“, konstatierte der Architekturkritiker Wolfgang Bachmann in seiner Eröffnungsrede zur Fotoausstellung „Stuttgart – Stadtraum in Bewegung“. Ein Architekturführer gehöre bei seinem Erscheinen im Prinzip bereits ins Moderne Antiquariat, so schnell, wie sich hier alles verändere.

Diesem rasanten Austauschprozess widmet sich denn auch ein Großteil der Bilder in der vom Werkbund initiierten Schau im Kunstbezirk. So hat Frank Paul Kistner in schwarzweißem Panoramaformat dokumentiert, wie das Gebäude der WKV-Versicherungen am Österreichischen Platz während des Abbruchs zu einem „apokalyptischen Wrack“ mutierte. Auf den Farbaufnahmen von Renate Hoffleit sieht man die ganze Verwüstung am Bahnhof: demolierte Seitenflügel, mit Baumstümpfen durchsetzte Ödnis, Absperrungen. Michael Kimmerle und Sabine Kock haben unabhängig voneinander in sehr einfachen Bildern Werbeslogans an Bauzäunen in der Königstraße fotografiert: „Hier entsteht etwas Schönes“, heißt es da zum Beispiel – in Wirklichkeit kündigt sich nur die nächste Großfiliale einer global operierenden Billigklamottenkette an. Rose Hajdu widmet sich den „temporären Fenstern“, die sich durch vorübergehende Baulücken im Stadtbild auftun und ganz neue Ausblicke auf Stiftskirche und Markthalle gewähren, Michael B. Frank zeigt, wie sich die Blechkolonnen auf umgeleiteten Wegen um die Baustellen schlängeln.

Der Neckarhafen im Goldglanz

Es gibt auch die Fotografen, die das Thema Bewegung als Bewegung im Raum interpretieren, was sich meistens in Unschärfen ausdrückt: fahrende S-Bahnen bei Ralph Klohs, Rolltreppen an U-Bahnhaltestellen mit den im Ausstellungskontext geradezu metaphorisch zu verstehenden Aufschriften „Gehen“ und „Stehen“ bei Robin Weidner. Migration, die ja ebenfalls eine in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Form von Bewegung ist, sprechen erstaunlicherweise nur Kai Loges und Andreas Langen mit Fotos von „Little Istanbul“ in Feuerbach an. Den (versteckten) Schönheiten der Stadt schließlich huldigen Thomas Heger, der den banalsten Ecken poetische, gleichsam schwebende Schwarzweiß-Aufnahmen abgewinnt, und Hubert Vollmer mit Bildern, auf denen der Neckarhafen im Sonnenlicht überirdischen Goldglanz entfaltet.

Es mag am Thema gelegen haben, dass die meisten Teilnehmer dieser auf einem Aufruf des Werkbunds basierenden fotografischen „Spurensuche“ den „Stadtraum in Bewegung“ dokumentarisch auffassen. Zu Formspielereien, gar -experimenten schienen die wenigsten aufgelegt zu sein. Umso erfrischender Julian Salamons „Schichten“: Der Fotograf hat die Phalanx der Aufzugtüren im Kollegiengebäude I der Stuttgarter Universität auf allen neun Stockwerken abgelichtet und die Aufnahmen in schmalen Streifen übereinander montiert. Dieser vertikalen Bewegung im Raum entspricht die horizontale Abfolge der Stuttgarter U-Bahnhöfe, die allerdings – logisch inkonsequent – im Bild ebenfalls gestapelt wurden. Die „Ecken der Stadt“ schließlich, eine Installation von Christian Holl und Anja Ohliger, holen die unmittelbare Umgebung des Leonhardsviertels in einer gewitzten Verdoppelung inklusive Brunnenwirt-Ausschank in die Ausstellungsräume des Kunstbezirks.

Mehr Problembewusstsein und Rücksicht

Und was ist nun mit dem Stadtraum? Soll er gehen? Soll er stehen? Erstarrung kann niemand wollen, diesen irren Veränderungsdruck aber auch nicht. Wolfgang Bachmanns Eröffnungsrede zitiert dazu den altersweisen Architekten Volkwin Marg: „Wir dürfen die Gestaltung unserer natürlichen Umwelt nicht aufgeben, sondern müssen sie nur viel problembewusster mit mehr Rücksicht auf absehbare Kollateralschäden betreiben.“ Hinzuzufügen wäre, dass dem Wandel allmählich eine Zukunftsidee zugrunde zu liegen hätte, wie wir hier eigentlich leben wollen, wenn die Stadt nicht irgendwann nur noch ein zufalls- und profitgesteuerter Haufen von Einzelobjekten im Feinstaub sein soll.