Eine neue Ausstellung im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv beschreibt die teils schrecklichen Vorgänge in württembergischen Kinderheimen. Sie ist das Ergebnis der historischen Aufarbeitung durch das Landesarchiv.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Die Mitarbeiter von Archiven beherbergen und erforschen meist die Vergangenheit – doch in diesem Fall ist es anders: Seit 2012 stehen im Landesarchiv Baden-Württemberg zwei Personen bereit, um ehemaligen Heimkindern zu helfen, wieder besser in die Zukunft blicken zu können. Indem die Archivare Akten ans Tageslicht befördern, die das teils große erlittene Unrecht dokumentieren, leisten diese Mitarbeiter Unterstützung, die seelischen Qualen aufzuarbeiten.

 

Zugleich hat das Landesarchiv die unfassbare Geschichte der Erziehung in den 650 baden-württembergischen Heimen von 1949 bis 1975 wissenschaftlich erforscht. Ein Buch und eine Ausstellung zum Thema sind erste Ergebnisse dieser Arbeit. Sie tragen beide den Titel „Verwahrlost und gefährdet?“. Am Mittwoch ist die Ausstellung, kuratiert von Nadine Seidu, im Hauptstaatsarchiv eröffnet und das Buch vorgestellt worden. Markus Ziegler und Christian Bäucker stellten ihren Dokumentarfilm mit vielen Interviews Betroffener vor.

Viele sind gezeichnet fürs Leben

Wer sich näher mit der Geschichte der ehemaligen Heimkinder beschäftigt, ist erschüttert. Nicht Zuneigung, sondern Strafe war die oberste Maxime der Pädagogik. Oft waren die Kinder ihren „Erziehern“ regelrecht ausgeliefert, und das über Jahre hinweg: Außen glaubte ihnen niemand, und in den Heimen wurden sie geschlagen, erniedrigt, ausgebeutet und sexuell missbraucht. Viele von ihnen sind gezeichnet fürs Leben, wie Helmut Klotzbücher, der im Buch seine Geschichte erzählt und bei der Eröffnung der Ausstellung auch anwesend war. Als der Jugendliche aus dem Steinbruch in Ringingen, wo er arbeiten musste, wegrennen wollte, packte ihn der Aufseher an der Jacke, und im Schwung geriet Klotzbücher unter die Bahn des Steinbruchs, sein rechtes Bein musste amputiert werden. Als er aus der Klinik ins Heim zurückkehrte, verpasste ihm der Direktor zum Empfang eine Tracht Prügel.

„Die Zeit heilt keine Wunden – man gewöhnt sich nur an den Schmerz“ – mit diesem Zitat gab Claudia Rose vom Wissenschaftsministerium das vorherrschende Lebensgefühl vieler ehemaliger Heimkinder wider. Jahrzehntelang war die Brutalität in den Heimen ein Tabu gewesen, erst 2006 gelangte das Thema in die Öffentlichkeit, als einige Betroffene eine Petition beim Bundestag einreichten. Ein Runder Tisch ist damals geschaffen worden, es wurde ein Fonds eingerichtet, auch einige Einrichtungen stellen sich langsam der Vergangenheit. Für viele Betroffene ist das nicht ausreichend, zumal die Entschädigung meist bei wenigen Tausend Euro liegt und man bis zu eineinhalb Jahre auf einen Termin warten muss. Neue Anträge sind nicht mehr möglich. Insgesamt haben sich bei der Anlaufstelle in Stuttgart 2200 Betroffene gemeldet; 1700 Menschen nahmen das Angebot des Landesarchivs wahr.

Keine freie Minute über den Tag

Ulrike Zöller, die Vorsitzende des Beirats dieser Anlauf- und Beratungsstelle, sieht ihre Aufgabe sowieso nicht als getan an. Man wolle weiter die Vergangenheit beleuchten, auch, um Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen, sagte sie. In der Ausstellung gibt es deshalb eine Stelltafel, die auf die Rechte von Kindern und Jugendlichen verweist. Ansonsten geben die Texte und Fotos einen Einblick in den Alltag der Heime – ein Tagesplan zeigt zum Beispiel, dass die Kinder vom frühen Morgen bis zum späten Abend keine freie Minute hatten.

Info
Die Ausstellung ist noch bis zum 30. Oktober zu den üblichen Öffnungszeiten im Hauptstaatsarchiv zu sehen.