Bleiben S-Bahnen liegen, denkt man an genervte Passagiere, proppenvolle Bahnsteige und geplatzte Geschäftstermine. Vom Durcheinander im Familienleben erzählen die Hackners.

Region: Verena Mayer (ena)

Winterbach/Stuttgart - Wenn am Abend gegen Viertel nach sechs das Telefon klingelt, zuckt Stephanie Hackner erst mal zusammen. So weit ist es schon gekommen. Ein Schellen – ein Schrecken. Wie das halt ist, wenn sich etwas Blödes regelmäßig wiederholt. Keine Woche vergeht, in der Stephanie Hackner keinen dieser Anrufe bekommt. Am anderen Ende ist immer ihr Mann Michael. Mit immer der gleichen Nachricht: „Es wird später.“ Aus dem immergleichen Grund: die S-Bahn. Es gibt gestörte Signale, gestörte Weichen und gestörte Stellwerke. Ein Notarzteinsatz kann Züge ausbremsen, ein Stromausfall, ein Brandalarm oder eine gerissene Oberleitung. Stephanie Hackner fragt nicht mehr, was ihren Mann dieses Mal aufhält. Sie sagt nur noch „Ja, ja“ und legt auf.

 

Hört man von liegen gebliebenen S-Bahnen, hat man vielleicht Mitleid mit den Fahrgästen. Man denkt womöglich an das Chaos auf den Bahnsteigen und den Ärger wegen verpasster Geschäftstermine. An das Durcheinander im Privatleben denkt man als Nichtbetroffener eher nicht. Die Hackners sind Betroffene. Sie belastet die einst ungewohnte Unzuverlässigkeit massiv.

Stephanie Hackner ist 42 Jahre alt und unterrichtet Geschichte und Englisch am Remstal-Gymnasium in Weinstadt. Michael Hackner ist 49 und arbeitet als Ingenieur in Feuerbach. Die Familie, zu der die Söhne Julian (10), Jakob (7) und Jonathan (5) gehören, lebt in Winterbach. Hackners haben ein Auto, das hauptsächlich Stephanie Hackner mit den Kindern nutzt. Michael Hackner fährt S-Bahn. Schon immer. Aus Überzeugung. Eigentlich.

Nichts geht mehr

Von den ungezählten chaotischen Tagen war der 2. Februar dieses Jahres einer der schlimmeren. Michael Hackner erinnert sich deshalb genau an das Datum, weil er einen wichtigen Termin hatte: ein Gespräch mit Julians Lehrerin über die weiterführende Schule. Um 16 Uhr will er sich mit seiner Frau in der Schule treffen. Normalerweise dauert die Fahrt von Feuerbach nach Winterbach 40 Minuten. Sicherheitshalber macht sich Michael Hackner bereits um halb drei auf den Weg. Eine Stunde später strandet er in Waiblingen. Nichts geht mehr. Michael Hackner legt den Rest der Strecke mit einem Bus zurück. Als er endlich am Ziel ist, ist es Viertel vor fünf und das wichtige Gespräch im Wesentlichen ohne ihn gelaufen. „Das war sehr ärgerlich“, sagt er sehr höflich. Seine Frau schimpft: „Das ist doch zum Verrücktwerden!“

Worauf soll man sich denn noch verlassen können, wenn man nicht einmal mit einem Sicherheitszeitpolster sicher planen kann? Und was soll erst werden, wenn Julian im Sommer auf das Gymnasium in Schorndorf geht? Kommt er dann auch regelmäßig wegen einer taktlosen S-Bahn zu spät zum Unterricht? So wie die Schüler, die Stephanie Hackner unterrichtet.

Einen schleichenden Trend zur Unpünktlichkeit gab es seit dem Jahr 2007. Extrem wurde er 2010, als der S-Bahn-Tunnel am Hauptbahnhof wegen einer langwierigen Signalpanne in Zusammenhang mit den Stuttgart-21-Bauarbeiten nur noch sehr eingeschränkt befahrbar war. Doch so verheerend wie 2013 fiel das Zeugnis für die S-Bahnen in der Region noch nie aus.

Das Jahr der Weichen- und Signalstörungen

2013 ist das Jahr, in dem sich die neuen S-Bahn-Fahrzeuge als unbrauchbar erweisen. Mit klemmenden Schiebetritten und geöffneten Türen stehen die eigens von Bombardier entwickelten Wagen des Typs ET 430 auf den Gleisen und bewegen sich viel zu spät oder gar nicht von der Stelle. Hinzu kommt eine schier unvorstellbare Zahl an Weichen- und Signalstörungen. Und wegen der S-21-Bauarbeiten kommt es auf den Gleisen vor dem Hauptbahnhof sowieso zu regelmäßigen Staus. Das Jahr 2013 ist das Jahr, in dem nur 74,2 Prozent der Züge zur Hauptverkehrszeit halbwegs pünktlich ins Ziel kommen, also mit weniger als drei Minuten Verspätung. Im schlimmsten Monat jenes Jahres, im Horror-Juni, sind es sogar nur 68 Prozent.

Würde Michael Hackner seine Projekte im Büro so planen wie die Mitarbeiter der Bahn ihre Projekte, müsste er wahrscheinlich gar nicht mehr nach Feuerbach fahren. Das vermutet er zumindest manchmal, wenn er sich sehr ärgert.

Sein Fahrplan sieht vor, dass er kurz nach halb sieben am Abend zu Hause ist. Dann kann die Familie zusammen vespern, der Vater hat noch ein bisschen Zeit mit seinen Söhnen und die Mutter endlich mal einen Moment, wo sie nicht an tausend Stellen gleichzeitig sein muss. Wer kleine Kinder hat, weiß, dass die Tagesabläufe oft so sorgsam getaktet sind wie Zugfahrpläne. Und wer drei kleine Kinder hat, weiß, wie dünn das Nervenkostüm am Ende eines Tages sein kann.

Der erste S-Bahn-Gipfel

Ein Anruf vom verspäteten Ehemann kann es vollends zum Reißen bringen. „Wenn man schon wieder keine Unterstützung hat, ist man manchmal wirklich am Heulen“, sagt Stephanie Hackner, die dann eben auch noch den Rest des Abendprogramms alleine stemmt – wenn sie ihren Mann nicht wieder irgendwo abholen muss. Weil er zum Beispiel in Schorndorf steht und öffentlich nicht mehr vom Fleck kommt. Dann packt Stephanie Hackner ihre Kinder nicht ins Bett, sondern ins Auto, hetzt in die Nachbarstadt und sammelt ihren Ehemann ein.

Die Kinder finden solche Ausflüge womöglich aufregend, die Eltern können sich über die Zustände nur noch aufregen. Dass mal was nicht funktioniert, sei ja völlig in Ordnung, sagt die Mutter, die nicht wirkt, als lasse sie sich so schnell aus der Bahn werfen. Aber das könne doch kein Dauerzustand sein, ergänzt der Vater.

Das Dauerdebakel im Jahr 2013 führte zum ersten sogenannten S-Bahn-Gipfel im Oktober jenes Jahres. Die Deutsche Bahn, die die S-Bahn betreibt, und der Verband Region Stuttgart, der dafür bezahlt, analysierten, was alles schlecht lief und wie es besser werden könnte. Es kam zu einer Pünktlichkeits- und Qualitätsoffensive. Seither verteilen emsige „S-Bahn-Helfer“ wartende Passagiere an den Stationen Hauptbahnhof und Stadtmitte möglichst gleichmäßig auf alle Türen. Zugführer machen Sekunden gut, indem sie alle Türen zentral öffnen und schließen. Die Bahn stockte ihr Budget für die Instandhaltung von Weichen und Stellwerken auf. Und die ET-430-Wagen wurden vorübergehend aus dem Verkehr gezogen und dann mit deaktivierten Schiebetritten auf die Reise geschickt.

Traurige Statistik

Doch der Erfolg lässt auf sich warten. 3,5 Prozent aller S-Bahnen sind im vorigen Jahr komplett ausgefallen. Mit der vertretbaren Drei-Minuten-Verspätung kamen im Berufsverkehr nur 75,2 Prozent ins Ziel. Und die ersten Monate dieses Jahres verliefen auch nicht vielversprechend.

Dürften bei der jährlichen S-Bahn-Umfrage nicht nur Passagiere ihre Meinung sagen, sondern alle Leidtragenden, würde die Note in der Kategorie Pünktlichkeit gewiss noch miserabler ausfallen, als sie es mit 3,2 ohnehin schon tut. Stephanie Hackner etwa sagt: „Wir empfinden die Zustände als unerträglich.“

Gibt es nichts Unerträglicheres, als nicht vollzählig beim Abendbrot zu sitzen? Ist es wirklich so schlimm, die Kinder nur noch kurz zum Gutenachtsagen zu sehen? Und was ist schon dabei, wenn Stephanie und Michael Hackner erst spät am Abend besprechen können, wie aufregend der Tag mal wieder gewesen ist. Immerhin können sie sich überhaupt austauschen, in jedem Fall sind ihre Kinder gut betreut, und zur größten Not kann Stephanie Hackner ihren Mann immer noch mit dem Auto irgendwo einsammeln.

Die Regionaldirektorin hofft auf ein Wunder

Stephanie und Michael Hackner wissen, dass es ihnen gutgeht und sie sich eine „glückliche Familie“ nennen dürfen. Trotz S-Bahn-Chaos. Aber kann das der Sinn des sogenannten Rückgrats des öffentlichen Personennahverkehrs sein, dass man froh ist, dass es nicht noch schlimmer knackst? Und: Um wie viel schlimmer sind die Störungen dann erst für Alleinerziehende, die nie wissen können, ob sie sicher daheim sind, wenn die Kinder aus der Schule oder der Kita kommen?

An diesem Mittwoch findet wieder eines der Treffen statt, das der Veranstalter, der Verband Region Stuttgart, „S-Bahn-Gipfel“ nennt. Bei genauer Betrachtung ist der aktuelle Gipfel allerdings nur eine Sitzung des Verkehrsausschusses, bei dem Vertreter der Bahn Rede und Antwort stehen müssen. Sie erwarte, dass die Bahn-Mitarbeiter darlegen, in welchem Ausmaß die beim ersten Krisengespräch beschlossenen Maßnahmen gegriffen haben, kündigt Nicola Schelling an. Doch der Blick auf die traurige Statistik für das vergangene Jahr dürfte der Regionaldirektorin jede Illusion geraubt haben.

Richtig erfolgreich könnten die Maßnahmen ohnehin nur dann sein, wenn zwischen den Haltestellen Hauptbahnhof und Schwabstraße von jetzt auf gleich mehr Gleise lägen. Denn das Chaos hat auch strukturelle Gründe.

Das Nadelöhr Innenstadttunnel

Als anno 1978 die ersten S-Bahnen durch die Stadt fuhren, taten sie das auf drei Linien und auf einem 65 Kilometer umfassenden Streckennetz. Inzwischen umfasst das Netz 215 Kilometer, auf denen sieben Linien verkehren, die werktäglich einst unvorstellbare 390 000 Passagiere einsaugen und auspusten. 720 Bahnen sind jeden Tag in der Region Stuttgart unterwegs, in den Hauptverkehrszeiten am Morgen und am Abend rollen 51 Züge gleichzeitig über die Gleise. Fast alle von ihnen passieren dabei den Innenstadttunnel. Das bedeutet, dass zu den Hochzeiten alle zweieinhalb Minuten eine voll besetzte S-Bahn ein- und ausfährt. Mehr geht nicht. Schon das Ein- und Aussteigen der zigtausend Pendler ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Jede Verspätung schaukelt sich auf und überträgt sich auf alle anderen Linien. Im Fachjargon heißt das: Das System besitzt keine ausreichende Erholungsfähigkeit.

Für die Nutzer heißt das: „Die Verspätungen auf den S-Bahn-Linien betragen teilweise bis zu 30 Minuten.“ Oder: „Auch im Anschluss kommt es zu weiteren Verzögerungen.“ Oder, wie die Familie Hackner inzwischen sagt, „zu kleinen Tragödien“. Den jüngsten Auftritt seines Sohnes Julian im Klassentheater beispielsweise hat Michael Hackner weitgehend verpasst. Der Vater bekam nur noch den Schluss der Aufführung mit. Dabei hatte er extra eher Feierabend gemacht und eine S-Bahn früher genommen.

Freunde von Hackners haben vor Kurzem kapituliert: Die vierköpfige Familie vom anderen Ende der Region schaffte sich ein zweites Auto an. Wann immer Hackners nun ihre kleinen Tragödien schildern, können die Freunde von ihrer großen Erleichterung berichten. Die permanente Ungewissheit, das regelmäßige Stranden, die strapazierten Nerven – passé. Stephanie und Michael Hackner rechnen immer mal wieder durch, ob sie sich auch ein weiteres Auto leisten könnten. Sie können es nicht. Noch das günstigste Fahrzeug kostet – wenn man Wertverlust, Unterhalt- und Betriebskosten einkalkuliert – mehr als Michael Hackners 1500 Euro teures Jahresticket.

Wäre ein Zweitwagen ein Gewinn?

Doch selbst wenn Geld keine Rolle spielen würde, wären die Eheleute nicht überzeugt, dass sich der Zweitwagen lohnen würde: Statt irgendwo in der Provinz hinge Michael Hackner dann womöglich in einem Stau am Kappelbergtunnel fest. Statt eines verrückten Stellwerks hielte ihn vielleicht eine Schlange an der Neckarbrücke in Cannstatt auf oder stockender Verkehr am Pragsattel. Natürlich, Michael Hackner könnte einfach früher aufbrechen. Aber wäre das wirklich ein Gewinn? Beim Kauf ihres Hauses in Winterbach hat die Nähe zum Bahnhof eine entscheidende Rolle gespielt.

Wie gesagt: Michael Hackner fährt S-Bahn aus Überzeugung. Eigentlich.