Feste sind ein gefundenes Fressen für die französische Autorin und Eskalationskünstlerin Yasmina Reza. Auch in ihrem neuen Roman „Babylon“ wird gefeiert – und doch geht hier manches anders aus als erwartet.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Eben saßen sie noch inmitten einer Festgesellschaft und amüsierten sich. Er im veilchenblauen Hemd, das Gesicht etwas gerötet vom Champagner, sie den Kopf etwas nach links geneigt, schallend lachend. Wer hätte gedacht, dass dies das letzte Bild des etwas ramponierten, aber nicht unangenehmen Paars bleiben würde.

 

Yasmina Rezas neuer Roman ist aus einer Folge von Bildern komponiert. Wie ein schwarz-weißer Faden zieht sich ihre Spur durch „Babylon“ geradewegs in die Dunkelkammer des Lebens hinein, wo Reza die Negative des Daseins entwickelt. Wenn man erst einmal beginnt, Bilder zu ordnen, ist das Leben wieder einen Schritt weitergezogen. Und auch wer nicht wie die Erzählerin – von der Autorin wohl zu scheiden – an manchen Tagen schon beim Aufwachen vom Alter angesprungen wird, ermisst die leise Melancholie, die an Fotografien haftet. Denn die Augenblicke, die das Licht ihnen eingeschrieben hat, sind für immer im Schatten der Zeit verloren.

Und doch wäre es ein Riesenfehler, von einem traurigen Gegenstand auf ein trauriges Buch zu schließen. Wo Yasmina Rezas theatrales Abbruchunternehmen früher in Stücken wie „Kunst“ oder dem „Gott des Gemetzels“ mit Dialogen wie Sprengsätzen die schicken Kulissen der Besserverdienenden lustvoll zum Einsturz gebracht hat, tut diesmal die Zeit das Ihre. Wohin die Erzählerin sich wendet, bleckt der Verfall, Momentaufnahmen der Dürftigkeit, abblätternder Putz, an Fassaden und Menschen gleichermaßen. Einsam stirbt die Mutter, während die Schwester in triebhafter Zweisamkeit ihr Sexleben noch einmal mit einer Kroko-Lederpeitsche auf Trab zu bringen sucht. Und auch der pummelige, nichtssagende Nervensägen-Nachwuchs lässt für die Zukunft nichts Gutes erwarten.

Der Kater versteht nur Italienisch

Von der spritzigen Komödienanthropologie ist der Gesichtspunkt der Kreatürlichkeit geblieben, und die macht selbst vor dem alten Kater nicht halt, einem griesgrämigen Tier, das nur Italienisch versteht. Einzig die Dramen des Alltags erlauben, das eigene Elend zu vergessen, und spenden eine abgründige Art des Trostes.

Eines dieser Dramen entfaltet der Roman, und es nimmt seinen Lauf wie so oft bei der 1959 geborenen Eskalationsvirtuosin auf den Schaumkronen der Konversation. Die Erzählerin hat zu einem Frühlingsfest geladen. Auch wenn die Besetzung, verglichen mit dem früheren Reza-Personal, altersbedingt merklich Federn gelassen hat, ist immer noch genügend Energie im Spiel, das Ganze in einem Frühlingsopfer enden zu lassen, bei dem die Frage der artgerechten Hühnerhaltung über den gesellschaftlichen Zusammenhalt eines Ehepaars triumphiert.

Nebenbei: Wie nichtssagend die Erzählerin solche abgeschliffenen Wendungen wie „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ findet! Toleranz – ein Konzept, wie einer ihrer Gäste meint, das nur gepaart mit Gleichgültigkeit funktioniere, andernfalls in sich zusammenbreche. Das Wort von der „inneren Einkehr“: „Seit die Welt mit Riesenschritten auf ein unbeschreibliches Chaos zusteuert, ist es schwer in Mode. Politiker und Bürger ergehen sich unablässig in innerer Einkehr. Ich ziehe frühere Zeiten vor, als man noch den Kopf des Feindes auf einen Stecken gespießt nach Hause trug.“

Tierschutz und Menschenhass

Vermutlich hätte etwas des aus diesen Leerformeln gewichenen Geistes die Katastrophe verhindern können, in der sich Tierschutz und Menschenhass freilich so eigentümlich verschränken, wie es nur eine ausgebuffte Komödienpraktikerin arrangieren kann. Selbst auf dem in pessimistischem Schwarz gehaltenen Untergrund dieses Romans spielen die Glanzlichter eines entwaffnenden Witzes. Und sie leuchten umso klarer, je ernster die Verhältnisse erscheinen, die ihm zum Anlass werden. Vielleicht ist „Babylon“ deshalb bisher Rezas reifstes Werk.

Ihre szenischen Bravourstücke, die sie zu einer der meistgespielten Bühnenautorinnen unserer Zeit gemacht haben, leben vor allem von der gehobenen Kunst der Vernichtung, von der spitzen Eleganz, mit der sie die aufgeblasenen Eitelkeiten bürgerlich-zivilisatorischen Selbstgefühls zum Platzen bringt. Dieser Roman jedoch kennt auch den Schmerz, mit dem mancher effektvolle Coup de Theatre im Leben der Betroffenen einschlägt. Die technische Brillanz, mit der die Bühnenautorin ihre Figuren vorführt, ist hier unterfüttert von einer menschlichen Dimension. Auch wenn die misanthropisch aufgelegte Erzählerin aus dieser Beobachtung leerformelverdächtige Betulichkeiten wie „menschliche Dimension“ sofort herausbeißen würde.

Schattenhafte Gemeinschaft

Wo die Komödie mitleidlos Typen verfeuert, zeigt dieser aus Nahaufnahmen gebaute Roman Individuen. Seine traurigen Figuren spiegeln sich in dem heimlich mitgeblätterten Bildband des Schweizer Fotografen Robert Frank, der in den fünfziger Jahren durch die USA gereist war, und was er sah in etwas mehr als achtzig Fotografiegeschichte schreibenden Aufnahmen festgehalten hat. „The Americans“ ist für die Erzählerin das traurigste Buch der Welt. „Die Helden wirken, als hätten sie niemanden. Das kennzeichnet sie. Sie befinden sich am Rande der Straßen, der Bänke und Säle, auf der Suche nach etwas, das sie nicht finden werden. Dann und wann einmal stehen sie strahlend in einem vergänglichen Licht.“

In diese schattenhafte Gemeinschaft findet sich am Ende auch jener Mann im veilchenblauen Hemd und dem champagnergeröteten Gesicht eingereiht. Er ist aus dem Leben gefallen wie das jüdische Volk in der babylonischen Gefangenschaft, die dem Roman den Titel gab. Und so wäre hier eigentlich alles auf einen elegischen Ton gestimmt, wenn es nicht eben zu der staunenswerten Gabe Yasmina Rezas gehören würde, die Weltverneinungslitaneien dieses Buches mit einer vom kalten Hohn früherer Theatertriumphe geheilten, umso unwiderstehlicheren Komik zu untermalen.

Das lässt hoffen, für das Leben, aber auch für die Kunst des diesjährigen Gastlands der Frankfurter Buchmesse: Denn wie sonst könnte man französische Lebenskunst besser beschreiben als durch das Vermögen, Schweres leicht erscheinen zu lassen.