Die Mutter des getöteten Problembären Bruno soll im Schwarzwald ein artgerechtes Asyl bekommen. Im Sommer wird die Wildtieranlage eingeweiht.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Schapbach - Sie sitzt in Einzelhaft. Ihre Wächter haben sie sterilisieren lassen, Jurka soll keinesfalls mehr Nachwuchs bekommen. Denn die Braunbärin hat ihre Sprösslinge zu schlecht erzogen. Der erste Sohn, von der Wissenschaft "JJ1" und vom Volk "Bruno" getauft, wurde hingerichtet. Brunos Verbrechen war, dass er sich menschlich benommen hat. Wenn er Appetit hatte, stapfte der halbwüchsige Bär zum nächsten Schnellrestaurant, in seinem Fall waren das Schafsweiden, Kaninchenställe und Bienenstöcke. Am Tag, als Bruno starb, feierte die Biologiestudentin Annika Lürßen ihren 24. Geburtstag. Heute ist sie 27 und trägt den Titel "Projektleiterin Alternativer Wolf- und Bärenpark Schwarzwald".

Die Hannoveranerin Lürßen hat sich für ihr junges Berufsleben eine Mansardenwohnung im 1000-Seelen-Dorf Schapbach eingerichtet. Sie sitzt in der Küche, mit einem Piercing überm Auge und einem Bauplan auf dem Tisch. "Sehen Sie: vom Parkplatz laufen die Besucher nach oben", sagt sie und fährt mit dem Zeigefinger eine Linie entlang. Gut anderthalb Kilometer werde der Rundweg lang, geschützt von einem zweieinhalb Meter hohen Zaun. Dahinter: Fichten zum Klettern, Sträucher zum Naschen und ein Bach zum Baden. Jurkas neue Heimat?

Die Idee, im Schwarzwald ein naturnahes Bärengehege einzurichten, entstand vor sechs Jahren. Der Holzingenieur Stefan Angermüller war von einem Film über das Elend bulgarischer Tanzbären derart bewegt, dass er für die missbrauchten Pelzkreaturen nahe seinem Wohnort Pfalzgrafenweiler ein Refugium erschaffen wollte. Doch zu viele seiner Mitbürger fürchteten sich vor den "gestörten Raubtieren aus dem Ostblock", die womöglich ausbrechen und arglose Wanderer anfallen könnten.

Bären bringen Touristen


In Bad Rippoldsau-Schapbach, 15 Kilometer südwestlich von Freudenstadt, wurde Angermüller hingegen mit offenen Armen empfangen. Die hochverschuldete Gemeinde lebt vom Fremdenverkehr, und zwar zunehmend schlecht. Bären bringen Touristen, dachte sich der Gemeinderat und bot Angermüller das einzige Gut an, das Bad Rippoldsau-Schapbach im Überfluss besitzt: Wald. Als fachlich kompetenter Projektpartner wurde die Stiftung für Bären gewonnen. Was nun noch fehlte, waren rund anderthalb Millionen Euro.

Die Baustelle liegt direkt an der Landesstraße 96. Rüdiger Schmiedel parkt seinen erdgasbetriebenen Volkswagen im Schneematsch. Kurze Begrüßung, dann schimpft der Geschäftsführer der Stiftung für Bären erst einmal über "die Bedenkenträger in den Behörden, die aus unserem Tierschutzprojekt ein Politikum gemacht haben". Auch die Zusammenarbeit mit Sefan Angermüller lief nicht optimal: Im vergangenen Jahr hat sich der Initiator aus dem Projekt zurückgezogen. Während Schmiedel die Angelegenheit herunterspielt ("So was kommt doch in jedem Verein vor"), gräbt nebenan ein Bagger Schneisen in den Hang. Im Sommer soll die sieben Hektar große Anlage eingeweiht werden, "endlich", sagt Schmiedel.

Die Vorgeschichte: Jahrelang hängt der Antrag auf finanzielle Unterstützung in den Mühlen der Bürokratie. Schmiedel hört Argumente wie: "Warum sollte man Geld für Raubtiere ausgeben, wenn es nicht einmal genug Kindergartenplätze gibt?" Der Bund der Steuerzahler listet den Bärenpark in seinem Schwarzbuch als Beispiel für öffentliche Verschwendung auf. Erst im November 2009 erhält die Gemeinde Bad Rippoldsau-Schapbach den langersehnten Zuwendungsbescheid vom Regierungspräsidium: 450.000 Euro für das "touristische Leitprojekt" - beantragt waren 1,1 Millionen.

Der Bärenretter ist selbst ein Exot


Es hat hierzulande Tradition, dass der Umgang mit Wildtieren auf eine Kosten-Nutzen-Rechnung reduziert wird. Der heimische Bär wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgerottet, weil der Mensch nicht bereit war, sich mit dem mächtigen Allesfresser zu arrangieren. Seither fristen die Petze in heimischen Zoos, Zirkussen und Freizeitparks meist ein erbärmliches Dasein. Sie trotten ein paar Meter nach links und ein paar Meter nach rechts, mit Beton unter den Tatzen und Arthrose in den Gelenken. Sie dürfen im Winter nicht ruhen, sie sind aufs Wachbleiben trainiert. Man zwingt sie, ein Leben gegen ihr ureigenes Wesen zu führen. Das Schauspiel ist Teil einer Kultur, die auch vor starken und intelligenten Tieren keinen Respekt zeigt. Bruno, der getötete italienische Eindringling, wurde konserviert und in eine Museumsvitrine gestellt.

Rüdiger Schmiedel kämpft gegen solche unnatürlichen Zustände an. Der Bärenretter ist selbst ein Exot. Schmiedel wächst in der DDR auf; er arbeitet im Zoo von Halle und ist später bei der Nationalen Volksarmee für etwa tausend Hunde zuständig, die die innerdeutsche Grenze bewachen. Nach der Wende vermittelt er seine arbeitslosen vierpfötigen Kollegen in gute Hände, und bei dieser Tätigkeit findet Schmiedel zu seiner wahren Berufung: Tierschützer. Er dringt in eine deutsche Legebatterie ein, protestiert gegen einen französischen Kosmetikkonzern und befreit türkische Tanzbären.

1997 eröffnet Schmiedel in Thüringen den "Alternativen Bärenpark Worbis". Die erste Bewohnerin ist Mischka, die zuvor 22 Jahre in einem 16 Quadratmeter großen Zwinger vor sich hinvegetierte. Heute lebt sie mit zehn anderen Braunbären und einem Rudel Wölfe auf 40.000 Quadratmetern. Die Seniorin Mischka läuft gemächlich über Wiesen, gräbt Höhlen im Wald und planscht im See. "Wir können Wildtieren kein artgerechtes Leben bieten, sonst müssten wir alle Zäune einreißen", sagt Schmiedel. "Aber wir können ihnen eine Umgebung bieten, in der sie ihre Instinkte entwickeln."

Viele Einheimische packen seit Monaten unentgeltlich mit an


Rund 900.000 Euro hat die Stiftung zusammengekratzt, um im Schwarzwald ein zweites Bärenasyl zu schaffen. Das Geld reicht für einen Schotterparkplatz, Maschendraht- und Elektrozäune, einen Spazierweg, ein Kassenhaus, eine Toilettenanlage sowie eine Multifunktionshalle. Und das auch nur, weil zahlreiche Einheimische seit Monaten unentgeltlich mit anpacken. Die Projektleiterin Annika Lürßen träumt von einem Erlebnispfad, einem Schaubauernhof und einem großen Informationszentrum samt Gastronomie. "Wenn wir eröffnet haben, wird es einfacher werden, Spenden zu sammeln", sagt sie. Vorerst muss sich Lürßen mit einem Provisorium bescheiden.

In einem ausrangierten Linienbus kann sich der Besucher in einen Eisenkäfig sperren lassen, eng wie ein Sarg, um sich in den Pelz eines sogenannten Gallebären zu fühlen. In China wird täglich Tausenden derart eingepferchten Bären Gallensaft abgezapft, weil der angeblich die Potenz steigern soll.

Hierzulande sind die Sitten zwar etwas strenger, aber auch nicht gut. Schmiedel spricht von "staatlich legitimierter Tierquälerei". Bundesdeutsche Richtlinien legen beispielsweise fest, dass ein Zirkusbär unter zwei Meter Körpergröße auf mindestens zwölf Quadratmetern gehalten werden soll; ein Bär, der größer ist, auf mindestens 24 Quadratmetern. Außerdem sollen beide mindestens sechs Stunden täglich auf einer Fläche von 75 Quadratmetern verbringen. Zum Vergleich: Bruno hat in sechs Wochen Wanderschaft tausend Kilometer zwischen Norditalien, Österreich und Bayern zurückgelegt, bevor ihn schließlich ein Jäger im Spitzingseegebiet erschoss. Laut Sektionsbericht des Münchner Instituts für Tierpathologie zerfetzten zwei Projektile die Lunge und die Leber.

Lebenslange Haft für Jurka?


Im diesem Frühsommer werden drei ehemalige Zirkusbären und zwei junge Wölfinnen in das Schwarzwaldgehege einziehen. Im Herbst soll Jurka, Brunos Mutter, die artübergreifende Wohngemeinschaft bereichern. "Die fatalen Fehler, die der Mensch im Umgang mit Jurka gemacht hat, wollen wir thematisieren", sagt Annika Lürßen - wohl wissend, dass die prominente Bärin dem Projekt die dringend benötigte öffentliche Aufmerksamkeit bescheren dürfte. Die junge Biologin muss einen Zielkonflikt lösen. Einerseits will sie einen Lustgarten für Bären erschaffen, andererseits Touristen anlocken. Ob wie erhofft jährlich 80.000 Eintrittskarten verkauft werden, ist fraglich. Denn moderne Wildtiergehege können frustrierend sein: Man wird aus der Flora heraus von der Fauna beäugt- und sieht selbst nur Wald. "Unsere Besucher müssen halt etwas Geduld mitbringen, um die Bären und Wölfe zu entdecken", sagt Annika Lürßen. "Sie sollen unsere Tiere nicht wie im Zoo begaffen, sondern sich mit ihren Schicksalen auseinandersetzen."

Jurka kommt 1997 in Slowenien zur Welt. Vier Jahre ist die Bärin alt, als sie in eine Lebendfalle tappt. Man schnallt ihr einen Sender um den Hals und bringt sie nach Italien. Im Trentino setzt man Jurka im Rahmen des Artenschutzprogramms "Life Ursus" aus. Die Hoteliers in der Gegend freuen sich über die Bärin; sie füttern sie an, weil sie ihren Gästen etwas bieten wollen. Drei Jahre nach der Auswilderung bringt Jurka Junge zur Welt, JJ1 und JJ2. Die Bärin lehrt ihren Sprösslingen, was ihr die Menschen beigebracht haben: Nahrung bekommt man am einfachsten in der Nähe von Siedlungen. Experten sprechen von einer "Fehlprägung". Als Jurka zwei Jahre später erneut drei Problembären aufzieht - JJ3 bis JJ5 - nimmt man sie gefangen und sperrt sie in ein kleines Gehege.

Nun streiten sich die Gelehrten, was aus Jurka werden soll. Italienische Tierschützer wollen sie an die deutsche Stiftung für Bären übergeben. Doch noch ist nicht geklärt, ob sich ein Umzug in den Schwarzwald mit den Regeln des Washingtoner Artenschutzabkommens vereinbaren lässt. Ohne Ausfuhrgenehmigung bleibt die Braunbärin Jurka im Trentino in Einzelhaft. Womöglich lebenslänglich.

Die Stiftung für Bären im Internet unter baer.de »