Die Stadt hat der Bahn die bei Stuttgart 21 frei werdenden Gleisflächen abgekauft – ein neues Stadtviertel soll entstehen. Doch wer könnte dort bauen?

Stuttgart - Die Stadt hat der Bahn 2001 die bei S 21 frei werdenden 117,7 Hektar Gleisflächen abgekauft, um eine nachhaltige Stadtentwicklung unabhängig von Investoreninteressen betreiben zu können. Neben der Parkerweiterung soll ein ökologisches Stadtviertel entstehen, in dem auch Bürger mit durchschnittlichem Verdienst in zentraler Lage leben können sollen. Die Debatte über den Verkauf der LBBW-Wohnungen im benachbarten Nordbahnhofviertel, der wegen drastischer Mieterhöhungen eine Änderung der Bewohnerstruktur bewirken könnte, zeigt, wie schwierig es würde, den Wohnungsmarkt in guter City-Lage zu regulieren. Dies setzt erst einmal niedrige Grundstückspreise voraus. OB Schuster glaubt, sie zusichern zu können; die Grünen sagen, um sein Ziel zu erreichen, müsste er städtisches Vermögen verschleudern.

 

Kaufpreis OB Schuster rechnet vor, die Stadt habe 117,7 Hektar Bahn-Gelände für 424 Millionen Euro erworben; das entspreche einem niedrigen Quadratmeterpreis von 361 Euro, mit dem man sogar Förderprogramme für familienfreundliches Wohnen realisieren könnte. Zum Vergleich: auf dem Nachbargrundstück A 1 kostet der Quadratmeter etwa 3300 Euro; die Mieten für Wohnungen belaufen sich dort auf bis zu 3000 Euro pro Monat. Auf dem ehemaligen Güterbahnhofareal in Cannstatt würde der Quadratmeter etwa 430 Euro kosten.

Grundstücke mindestens 805 Millionen Euro wert

Die Grünen plädieren bei Stuttgart 21 für eine ehrliche Kaufpreisermittlung; erst dann werde deutlich, dass sich Schusters Vision von der Muster-City nur realisieren lasse, falls die Stadt bereit wäre, die Grundstücke mit bis zu 700 Millionen Euro Verlust zu veräußern. Der Fraktionschef Peter Pätzold beziffert den aktuellen Wert der Grundstücke auf mindestens 805 Millionen Euro. Dieser Betrag ergebe sich aus dem genannten Kaufpreis sowie kalkulatorischen Zinsen von 381 Millionen Euro für zehn Jahre, in denen das Areal dem Käufer nicht zur Verfügung stand. Die Bahn hat übrigens diesen Wert ihrer Berechnung der Ausstiegskosten vor der Volksabstimmung zugrunde gelegt; die Stadt hat ihn bestätigt.

Die Grünen rechnen zur Vollständigkeit auch noch jene 212 Millionen Euro an Verzugszinsen hinzu, die die Stadt der Bahn zur Erhöhung der Wirtschaftlichkeit von S 21 großzügigerweise erlassen hat und kommt so auf einen „ehrlichen Kaufpreis“ von einer Milliarde Euro – zweieinhalbmal so hoch wie der von OB Schuster.

Quadratmeterpreise von rund 700 Euro

Würde der unstrittige, auf Basis des Kaufpreises bezogene Verkehrswert von 805 Millionen Euro zugrunde gelegt, ergeben sich laut Stadtverwaltung folgende Durchschnittspreise pro Quadratmeter: Für das Gleisvorfeld 3281 Euro, fürs Rosensteinviertel immerhin noch 928 Euro, für den Abstellbahnhof waren es 466 Euro – also deutlich mehr als die von OB Schuster in der politischen Debatte stets verwendeten 361 Euro. Der Immobilienexperte Rainer Reddehase hat in seinem Fachbuch zu S 21 eine dritte Rechnung aufgemacht: Der Projektbefürworter kommt unter Berücksichtigung des kommunalen Zinsverzichts und einer zweiprozentigen Inflation auf Quadratmeterpreise von rund 700 Euro. Damit liegt er näher bei den Grünen als beim OB.

Grundstücksgröße Die Berechnungen liegen deshalb so weit auseinander, weil unterschiedliche Grundstücksgrößen zugrunde liegen. Schusters 117,7 Hektar umfassen Bauland und Parkfläche – und berücksichtigen auch die Gäubahntrasse. Diese und der Westbahnhof bleiben jedoch – Stichwort Schlichtung – erhalten. Sie haben ohnehin die Rechnung verzerrt, weil sie ein Drittel der gesamten Fläche ausmachen, ihr Anteil von elf Millionen Euro am Verkehrswert aber nur zwei Prozent beträgt. Lässt man diese Werte außen vor, erhöht sich der Preis für jeden Quadratmeter verbliebene Nutzfläche drastisch. Abzüglich der Flächen für die Schlossgartenerweiterung (20 Hektar), für Grün im Quartier sowie für Wegeverbindungen und Straßen, könnten von den 117 Hektar letztlich nur 37,7 Hektar zu Geld gemacht werden, um den Kaufpreis zu amortisieren (Angaben des Amts für Stadtplanung).

Grundstücksverkauf Für Rainer Reddehase ist es unrealistisch anzunehmen, hinter dem Hauptbahnhof könnten sich Familien ihren Traum von den eigenen vier Wänden erfüllen. Dafür sei die Lage zu exponiert. Er erwartet, dass die Stadt mit Nachlass an Wohnungsbaugesellschaften verkaufe.

Verschenken nicht zulässig

Um die städtebaulichen Ziele realisieren zu können – rund 870 000 Quadratmeter Geschossfläche, davon 625 000 Quadratmeter Wohnfläche – gibt es für Experten zwei Möglichkeiten: die Baumasse erhöhen – oder sich von der Vorstellung befreien, den bezahlten Betrag vollständig zurück zu erhalten. Die Grünen sagen, die Gemeindeordnung verbiete, Grundstücke zu verschleudern. Das Regierungspräsidium meinte, ein Verkauf unter dem vollen Wert komme „nur im Rahmen der gemeindlichen Aufgabenerfüllung in Betracht“. Verschenken sei nicht zulässig.

Der Sprecher des Oberbürgermeisters, Markus Vogt, erklärte, man wisse nicht, wie hoch der Verkehrswert der Grundstücke zum Zeitpunkt des Verkaufes in 15 oder 20 Jahren sein werde. Der Gemeinderat müsse dann entscheiden, was ihm wichtiger sei: eine nachhaltige Stadtentwicklung oder maximale Grundstückserlöse.

„Nachhaltige volkswirtschaftliche Betrachtung“

Der Kämmerer Michael Föll (CDU) stellte sich jedoch beim Rahmenplan für das Cannstatter Güterbahnhofareal quer, weil wegen der hohen Erschließungskosten ein Minus von 65 Millionen Euro drohte. Kürzlich lehnte er den Rahmenplan Jägerstraße ab, weil eine frei zu haltende Sichtachse städtische Grundstücke um drei Millionen Euro im Wert sinken lässt. Für das S-21-Gelände setzt OB Schuster andere Prämissen: Es sei nicht entscheidend, ob die Stadt einen Profit, bezogen auf ein einzelnes Grundstück, mache; entscheidend sei eine „nachhaltige volkswirtschaftliche Betrachtung“. So würden auf dem S-21-Areal vier Milliarden Euro investiert, von denen die Stadt anteilsmäßig durch Steuereinnahmen profitiere.