Nach den zwei Bombenexplosionen am Bahnhof in Ankara am Samstagmorgen ist Zahl der Opfer auf über 100 angestiegen, mehrere hundert Menschen wurden verletzt. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat eine Aufklärung des „Terrorangriffs“ von Ankara versprochen.

Istanbul - Die Zahl der Toten bei dem Terroranschlag in der türkischen Hauptstadt Ankara ist nach Angaben der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP auf über 100 gestiegen. Ein HDP-Funktionär, der anonym bleiben wollte, sagte der Deutschen Presse-Agentur am Sonntag, die Opferzahl könne jedoch noch weiter steigen. Mehrere hundert Menschen seien verletzt worden.

 

Zuletzt hatte die Übergangsregierung am Samstagabend mitgeteilt, 95 Menschen seien getötet und 246 verletzt worden. Am Samstagmorgen waren bei einer regierungskritischen Friedensdemonstration vor dem Hauptbahnhof in der Hauptstadt zwei Sprengsätze detoniert. Die HDP sieht sich als Ziel des Anschlags und macht der politischen Führung des Landes schwere Vorwürfe. Zu der Tat bekannte sich zunächst niemand.

Merkel: Besonders feiger Akt

In ersten Reaktionen aus dem Ausland wurde der Anschlag auch als Angriff auf Demokratie und Meinungsfreiheit in der Türkei verurteilt: Sollte sich bestätigen, dass es sich wie vermutet um die Taten von Terroristen handele, "dann handelt es sich um besonders feige Akte, die unmittelbar gegen Bürgerrechte, Demokratie und Frieden gerichtet sind", schrieb Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu.

Die US-Regierung bekräftigte angesichts des Anschlags ihre Entschlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus. "Derartige entsetzliche Gewalttaten werden uns ganz gewiss nicht abschrecken, sondern uns nur in unserer Entschlossenheit bestärken", erklärte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, Ned Price. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte: "Alle Bündnispartner stehen Seite an Seite im Kampf gegen die Geißel des Terrorismus."

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erklärte: "Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff zutiefst, dessen Ziel die Einheit, Solidarität und der Frieden unseres Landes gewesen ist." Erdogan versprach eine Aufklärung des Anschlags, zu dem sich zunächst niemand bekannt hatte. Laut Innenministerium ereigneten sich die beiden Explosionen um 10.04 Uhr (Ortszeit/09.04 MESZ) vor dem Hauptbahnhof in Ankara. Die HDP und andere regierungskritische Gruppen hatten Demonstrationsteilnehmer dazu aufgerufen, sich ab 10.00 Uhr am Bahnhof zu versammeln. Die Demonstration sollte um 12.00 Uhr beginnen.

Augenzeugen sollen von zwei Selbstmordattentätern berichten

Auf Bildern waren Leichen zu sehen, die mit Flaggen und Bannern unter anderem der HDP bedeckt waren. Ein Video zeigt, wie junge Demonstranten tanzen, als hinter ihnen eine der Bomben detoniert. Augenzeugen hätten von zwei Selbstmordattentätern gesprochen, die Polizei sei nicht vor Ort gewesen. Als Polizisten nach 15 Minuten eingetroffen seien, hätten sie Tränengas gegen Menschen eingesetzt, die Verletzten helfen wollten. Für den Abend wurde über Twitter zu Demonstrationen in mehreren türkischen Städten aufgerufen.

Der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, machte die islamisch-konservative Staatsführung für die Tat verantwortlich. "Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk", sagte er. "Ihr seid Mörder. An Euren Händen klebt Blut." Auch dieser Vorfall werde nicht aufgeklärt werden.

Demirtas kritisierte, die AKP-Regierung habe weder den Anschlag auf pro-kurdische Aktivisten im Juli im südtürkischen Suruc noch den auf eine HDP-Wahlveranstaltung im Juni in der Kurdenmetropole Diyarbakir aufgeklärt.

Den Anschlag in Suruc mit 34 Toten hatte die Regierung der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugeschrieben, die sich aber nie zu der Tat bekannte. Kurz nach dem Anschlag eskalierte der Konflikt zwischen der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Regierung, der seit Juli Hunderte Menschen das Leben kostete.

Die HDP war im Juni als erste pro-kurdische Partei ins türkische Parlament eingezogen. Nach gescheiterten Koalitionsverhandlungen rief Erdogan für den 1. November Neuwahlen aus. Erdogan braucht eine ausreichende AKP-Mehrheit für ein Verfassungsreferendum, um ein Präsidialsystem mit sich selber an der Spitze einführen zu können. Mitte November ist in der Nähe der südtürkischen Stadt Antalya der G20-Gipfel geplant, an dem auch Merkel teilnehmen soll.

Außenminister Steinmeier: Täter wollen Angst vor Wahlen schüren

Die Täter wollten offensichtlich vor den Wahlen ein Klima der Angst schüren, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). "Dieser brutale Terroranschlag auf friedliche Demonstranten ist zugleich auch ein Angriff auf den demokratischen Prozess in der Türkei."

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) kritisierte im Zusammenhang mit dem Anschlag die EU-Flüchtlingspolitik: "Es kennzeichnet den ganzen Zynismus der europäischen Flüchtlingsabwehrpolitik, wenn diese Türkei zum sicheren Herkunftsland definiert werden soll."

Auch der russische Präsident Wladimir Putin sprach Erdogan sein Beileid aus. Im Kampf gegen den Terror müsse man alle regionalen und überregionalen Anstrengungen vereinen, erklärte das russische Außenministerium in Moskau. Vorübergehende Einzelinteressen müssten außen vor bleiben. Die Türkei hat Russland wegen der Luftangriffe in Syrien scharf kritisiert.

Die Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, Erdogan sei nach dem Anschlag mit Ministerpräsident Davutoglu und anderen Kabinettsmitgliedern zu einem Krisentreffen zusammengekommen. Davutoglu setzte den Wahlkampf für drei Tage aus.

Die PKK kündigte am Samstag an, Angriffe auf den Staat vor der Wahl unter Vorbehalt auszusetzen. Bedingung sei, "dass keine Angriffe gegen die kurdische Bewegung, das Volk und Guerillakräfte ausgeführt werden", hieß es in Erklärung der PKK-Führung, die offenbar vor dem Anschlag verfasst wurde. Von einer Waffenruhe spricht die PKK nicht. Vize-Ministerpräsident Yalcin Akdogan hatte am Freitag gesagt, auch im Falle einer einseitigen Waffenruhe der PKK würden die Sicherheitskräfte weiter gegen die Bewegung vorgehen.