Mehrere Straßensozialarbeiter kümmern sich um die Menschen, die sich auf dem Vorplatz des Bahnhofs treffen.

Nachrichtenzentrale : Lukas Jenkner (loj)

Bad Cannstatt - Schwer zu entscheiden, was mehr an den Nerven zerrt, das blecherne Celtic-Folk-Gedudel aus dem Handy oder das Gekläffe des Hundes Rocky, einer Malteser-Shih-Tzu-Mischung. Doch dann stellt Claudia (Name geändert) ihr Telefon aus und es kehrt ein wenig Ruhe ein auf dem Cannstatter Bahnhofsvorplatz. Es ist ein beliebiger später Nachmittag in der Woche, und die Gruppe jener Menschen, die sich auf dem Platz versammeln, wächst allmählich an. Es kommen Menschen dazu, andere verabschieden sich, es herrscht ständige Bewegung. Weil es für die bunte Schar kaum eine passende Bezeichnung gibt, hat sich der Begriff Trinkerszene etabliert. Sich um die Menschen zu bemühen und bestenfalls so viele von ihnen wie möglich von der Straße zu holen, ist die Aufgabe von Iris Schüle und Manuel Borrego Beltran. Die beiden Straßensozialarbeiter sind seit Jahren in Bad Cannstatt unterwegs und kümmern sich.

 

Zum Beispiel um Claudia. Sie hat eine Drogenvergangenheit und im vergangenen Jahr im Gefängnis gesessen. Nun will sie bald auf die Alb fahren, zu Bekannten, wo es wüste Verwerfungen in einer Familie gibt. Claudia soll vermitteln. „Was geht dich das an?“ fragt Iris Schüle, und: „Ist das wirklich eine gute Idee?“ Denn Claudia hätte sicher eine Menge eigener Themen zu bearbeiten. Zurzeit schläft sie bei einem Kumpel, weil sie keine eigene Bleibe hat. Aber Claudia findet, dass das Jahr im Knast sie richtig verändert hat, sie jetzt „zu meinem Scheiß“ stehen kann und sich der Aufwand für den Versuch, in einer Familie Frieden zu stiften, durchaus lohnt.

Blacky immerhin weiß, dass er bis zum Hals in Problemen steckt. Acht Monate lang ist er trocken geblieben, „dann bin ich bei einer Frau abgeblitzt und rückfällig geworden“, erzählt er. Niedrige Frustrationstoleranz ist eines der Merkmale, die Iris Schüle und Manuel Borrego als grundsätzliches Problem ihrer Klientel erleben. In der ungünstigen Mischung aus Alkohol, häufig Drogen und auch psychischen Belastungen werden aus Kleinigkeiten ernsthafte Probleme. Erst kurz zuvor hat Blacky erfahren, dass Manuel Borrego zum Jahresende in eine andere Position der Betreuung armer Menschen wechselt. „Der hat keinen Bock mehr auf uns, der schmeißt alles hin“, so ist das bei Blacky angekommen, der Frührentner ist, weil er polytoxikoman ist. Er hat über die vergangenen 20 Jahre ein üblen Mix aus Drogen in seinen Körper gepumpt.Die Szene am Bahnhof ist zurzeit der einzige größere Treffpunkt von Menschen mit und ohne Wohnung in sozial prekärer Lage im Zentrum von Bad Cannstatt.

Als Schüle und Borrego vor sechs Jahren starteten, gab es noch das Mühlgrün und den Eingang zur Marktstraße am Wilhelmsplatz. An den beiden letzteren Orten ist zwischenzeitlich weitgehend Ruhe eingekehrt. Am Bahnhof jedoch hält sich die Szene, dem Gefühl der Anwohner nach hat sie sich in den vergangenen Monaten sogar vergrößert. Menschen, die sonst ihren Tag im Bereich der Paulinenbrücke verbracht hätten, seien durch die Bauarbeiten im Gerberviertel verdrängt worden und hätten sich in Cannstatt gesammelt. Schüle und Borrego können dies allenfalls für Einzelfälle bestätigen. „Aber die meisten hier sind schon Cannstatter“, sagt Schüle.

Die einen haben eine eigene kleine Wohnung, andere leben in städtischen Unterkünften oder bei Bekannten, einige schlafen tatsächlich auf der Straße. So wie der junge Mann, dem das Geld fehlte, eine Strafe zu bezahlen und der deshalb ein paar Wochen in Stammheim saß. Als er wieder herauskam, waren sein Hotelzimmer vergeben und seine wenigen Besitztümer nicht mehr auffindbar. Nun hat er mehrere Nächte im Zeltdorf im Schlossgarten verbracht und sitzt jetzt am Cannstatter Bahnhof. Neben ihm Iris Schüle. Sie lässt sich seine Geschichte erzählen und verweist ihn dann auf die Fachberatungsstelle für Menschen in Armut. Doch der junge Mann hat momentan keine Lust, sich helfen zu lassen. Ihm reicht erst einmal, was er in den vergangenen Wochen erlebt hat.

Ob die Geschichten stimmen, die Schüle und ihr Kollege erzählt bekommen, ist oft unklar. „Manche machen sich vielleicht bedeutender, um den Schein zu wahren“, sagt Iris Schüle. Andererseits ist es für die Arbeit auf der Straße aber auch nicht wichtig. „Wir gehen jedenfalls am Anfang davon aus, dass stimmt, was die Menschen uns erzählen. Sonst haben wir keine Grundlage.“ Denn bei der Arbeit am Bahnhof geht es vor allem darum, Vertrauen zu schaffen. „Es ist keine Tätigkeit, die sich in Zahlen messen lässt“, ergänzt Manuel Borrego. Haben er und seine Kollegin Erfolg und holen einen Menschen von der Straße, nimmt die Öffentlichkeit dies kaum wahr.

Im Bezirksbeirat von Bad Cannstatt haben sich die beiden vor kurzem viel Lob abholen dürfen. Dort hatten Schüle und Borrego von ihrer Arbeit berichtet, weil sich der Bezirksbeirat über die aktuelle Situation am Bahnhof informieren lassen wollte. Am Ende stand der von den Grünen vorgeschlagene und einstimmig gefasste Antrag an den Gemeinderat, die Finanzierung der Straßensozialarbeit auf eine 100-Prozent-Stelle zu erhöhen. Zurzeit teilen sich Iris Schüle und Manuel Borrego eine 80-Prozent-Stelle.

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