Der Ballett-Intendant Reid Anderson blickt entspannt auf die neue Saison - aber erwartet ein klares Wort zur neuen Cranko-Schule.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Gerade ist sein Vertrag am Staatstheater bis 2014 verlängert worden. Doch der Stuttgarter Ballettchef will trotz aller Erfolge nicht einfach weitermachen wie bisher.

 

Herr Anderson, gerade fällt mir auf, dass in Ihrem Büro gar kein Computer steht. Sind Sie etwa ein Internetverweigerer?

Nein, ganz und gar nicht. Ich genieße es, wie eng wir heutzutage Kontakt halten können mit der Tanzwelt, wie schnell wir dank Handy und E-Mail Antwort bekommen auf unsere Anfragen in der ganzen Welt. Wenn ich denke, dass wir bei meinem Start hier als Ballettchef vor fünfzehn Jahren noch Briefe verschicken und dann manchmal wochenlang auf Antwort warten mussten! Aber ich habe ein Privileg: Alle meine Mitarbeiter nutzen einen Computer - und ich habe in meinem Büro Platz für anderes.

Und daheim?

Zu Hause steht natürlich ein Computer. Aber ich bin kein großer Internetsurfer. Ich bin überhaupt kein großer Techniker. Ich erlebe lieber richtige Menschen um mich herum. Gerade habe ich unseren Ersten Solisten Jason Reilly zum ersten Mal nach dem Urlaub wiedergesehen. Er ist als Gasttänzer in Moskau aufgetreten und hat mir davon erzählt. Das brauche ich: richtige Gespräche mit richtigen Menschen.

Die vergangene Spielzeit stand ganz im Zeichen des fünfzigsten Geburtstags des Stuttgarter Balletts - mit mehreren Festwochen, vielen eigenen Premieren, dazu Gastspielen und Galas. Wie ist Ihre Bilanz?

Ja, das war ein Kraftakt für alle, für die Tänzer, den Stab, die Technik, das ganze Haus! Es war herrlich, wir konnten unserem Publikum das ganze Spektrum zeigen, das sich dieses Ballett seit der Berufung von John Cranko 1961 erarbeitet hat. Wir konnten aber auch erleben, wie das Stuttgarter Ballett eingebunden ist in eine große Tanzwelt, die sich über alle Kontinente erstreckt. Ich bin stolz auf meine Kompanie. Aber ich bin auch froh, dass wir in Zukunft etwas weniger Empfänge veranstalten müssen. So viele Nächte war ich auf den Beinen! Ich dachte immer, ich bin hier Intendant, und plötzlich wird man zum Partyboy.

Und wie gewinnt man nach einem solchen Kraftakt Schwung für eine neue Saison? Ist es das Lob der Kritiker, bei deren Umfrage das Stuttgarter Ballett gerade zur "Kompanie des Jahres" gewählt wurde?

Das macht uns sehr glücklich. Aber es funktioniert zum Glück viel einfacher: Das Publikum erwartet uns, und wir wissen, was jetzt zu tun ist. Die Tänzer sind bereit, die Besetzungen sind geplant. Bei uns im Tanzsaal brummt es, wir bereiten die "Kameliendame" vor, dann "Der Widerspenstigen Zähmung". John Cranko sagte einmal, ein Tänzer, der tanzen kann, ist ein glücklicher Tänzer. Das gilt für uns alle hier.

Es wird in dieser Saison ein neues Ballett von Christian Spuck geben, "Das Fräulein von S.". Aber am Ende der Spielzeit heißt es Abschied nehmen von Ihrem Hauschoreografen, der dann Ballettchef in Zürich wird...

Der Verlust ist riesig, und ich bin mir sicher, auf unserer Abschiedsgala für Christian im nächsten Sommer werden einige Tränen fließen. Aber andererseits sind wir auch sehr stolz. Ich kenne Christian so lange, er hat sich hier bei uns als Künstler entwickelt. Ich habe immer gehofft, dass er den Sprung zum Ballettdirektor schafft, und nun ist es gleich Zürich geworden, eine der wichtigsten Kompanien der Welt. Was wollen wir da jetzt groß jammern? Und wer weiß, ob Christian für uns nicht auch in Zukunft wieder tätig wird!

Christian Spuck kann etwas, was nicht viele junge Choreografen können oder wollen: Er schafft große, abendfüllende Handlungsballette, die Kritiker und Publikum gleichermaßen begeistern. Wie wollen Sie die Lücke nach ihm schließen?

Zunächst mal behalten wir ja Christians Stücke. Die "Lulu", "Leonce und Lena" oder "Orpheus und Eurydike" als Kooperation mit der Oper - diesen Schatz haben wir im Repertoire. Dann hoffe ich sehr, dass Marco Goecke nach seinem großen Erfolg mit "Orlando" bald ein weiteres großes Werk schafft. Und gerade hat Demis Volpi mit seinem "Karneval der Tiere" gezeigt, dass auch er mit Tanz ganze Geschichten erzählen kann. Es geht weiter, die nächste Generation der Stuttgarter Choreografen kommt schon, ich spüre das.

Kann es dennoch sein, dass Sie nach den Anstrengungen der vergangenen Saison bei den anstehenden Premieren etwas sparsamer geworden sind?

Wir hatten choreografisch für die neue Saison mehr vor. Aber auch wir leiden darunter, dass sich die Eröffnung des renovierten Schauspielhauses verzögert. Unseren Ballettabend im Schauspielhaus mussten wir darum auf den März verschieben, und das hat dann natürlich auch wieder Auswirkungen auf das übrige Programm.

Herr Anderson, Sie sehen sehr erholt aus, aber wie oft mussten Sie in Ihrem Urlaub an Ihre schönen Pläne zum Neubau der John-Cranko-Schule denken?

Meine Pläne sind so klar, dass ich in meinem Urlaub nicht groß darüber grübeln musste: Ich glaube, diese Stadt kann nicht länger hinnehmen, in welchem Zustand eine der bekanntesten Tanzschulen der Welt ist. Es ist eine Schande, unter welchen äußeren Bedingungen die Schüler dort ausgebildet werden. Ich glaube auch, dass die Stadt nicht länger hinnehmen kann, unter welchen Bedingungen unser Ballett, das ebenfalls ein Markenzeichen Stuttgarts in der ganzen Welt ist, hier unterm Dach im Opernhaus jeden Tag proben muss, unter welchen Bedingungen unsere Tänzerinnen und Tänzer ihr Körpertraining absolvieren. Wir haben eigentlich alles für die neue Schule: ein Grundstück, die Zusagen vom Land und einen Architektenwettbewerb. Was wir jetzt noch brauchen, ist eine zuverlässige Ansage der Stadt, ob und wann sie gemeinsam mit dem Land investieren will in einen Neubau, der dann auch eine ordentliche Probenbühne fürs Ballett bietet. Ein Neubau, auf den alle in dieser Stadt, das sage ich mal als Prophet, auf der Eröffnungsfeier sehr stolz sein werden.

Sie haben Ihren Vertrag um drei Jahre verlängert - mit Option auf zwei weitere - in der Hoffnung, dass Sie in dieser Zeit die Eröffnung der neuen Cranko-Schule erleben?

So ist es.

Und wenn wir schon beim Prophezeien sind, Herr Anderson, Ihre Prognose bitte für den 15. Juli 2012: Wird es beim "Ballett im Park" wie alle Jahre zuvor regnen?

Sie haben recht: Immer, wenn "Ballett im Park" stattfand, gab es Regen, Regen, Regen. Aber die Zuschauer kommen trotzdem und sitzen unter ihren Plastikhauben, das ist ein echter Liebesbeweis. Mal sehen, ich habe jetzt noch ein paar Jahre als Intendant, vielleicht schaffen wir ja beides: die neue Cranko-Schule und noch dazu ein Open Air bei Sonnenschein.

Am 25. November feiern Sie schon mal mit einer Gala den vierzigsten Geburtstag der John-Cranko-Schule.

Der Direktor Tadeusz Matacz und ich haben Gäste von den anderen großen Schulen in London, Paris und Hamburg eingeladen.

Das heißt aber auch...

...Party again.