Der schwedische Choreograf Johan Inger zeigt am Theater Basel mit „Peer Gynt“ eine fantasievolle autobiografische Bilderreise und ein vielschichtiges Ballett.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Basel - Vorm roten Schwedenhäuschen tollt der kleine Peer mit der resoluten Mutter Aase (der Tänzer Sergio Bustinduy) herum – im nächsten Moment ist er schon ein junger Hüne, dem der Bullerbü-Horizont zu eng wird. Es verschlägt ihn in eine Hochzeitsgesellschaft, wo er mit der unglücklichen Braut das Klohäuschen zum Wackeln bringt.

 

Ein drängender Wilder ist dieser Peer also, und vor allem ein Tänzer. Denn in dem Ballett „Peer Gynt“, das jetzt am Theater Basel uraufgeführt wurde, synchronisiert der Schwede Johan Inger die Reisestationen des Helden aus Henrik Ibsens dramatischen Gedicht mit seinen eigenen Wegmarken als Tänzer und Choreograf. Vom Königlichen Schwedischen Ballett ging Ingers Weg zum Netherland Dans Theater, dann zum Cullberg Ballett, dessen Direktor er fünf Jahre lang war. Inzwischen reist er von Spanien aus als gefragter freischaffender Choreograf um die Welt. Und Inger legt noch eine Schicht oben drauf, überhöht die Wanderjahre seines Zwitterwesens Peer/Johan zur Suche nach dem Selbst. So gerät der knapp zweistündige „Peer Gynt“ der Basler Kompanie zu einer fantasievollen, allegorischen wie autobiografischen Bilderreise und einem vielschichtigen Ballett.

Der Virus der entfesselten Bewegung springt auf Peer über

Nach den Spitzenpirouetten der Hochzeitskompanie bringen ein paar niedliche Trollgestalten, die aus einer Scheune herauspurzeln, dem Tänzer Peer die Erweckung: Sie entstammen dem Ballett „Gamla Barn“ des schwedischen Meister-Choreografen und ehemaligen Cullberg-Leiters Mats Ek. Inger übernimmt eine Sequenz daraus, lässt Ek als Tanz-Zampano (Max Zachrisson) und Trollkönig auftreten, dem der klassisch geschulte Peer im Nu verfällt: Der Virus der entfesselten Bewegung springt auf ihn über, und er lässt sich von der Grünen (Andrea Tortosa Vidal), einer Trollfrau mit graugrünem Zottelhaar, verführen.

Curt Allen Wilmer übersetzt die Vielschichtigkeit und Bewegtheit des Geschehens in ein kongeniales Bühnenbild: Zwei schwarze Container flankieren links und rechts den Bühnenraum, daraus lassen sich hochkant gestellte Raum-Schubladen wie Puppenstuben herausziehen, damit ist jeweils im Handumdrehen eine neue Wegstation markiert. Zudem gewinnen Inger und Wilmer ihr Publikum mit originellen Einfällen mal ironisch gewitzt, mal poetisch: Ein Paketbote in gelb-blauem Ikea-Outfit liefert einen Hütten-Selbstbausatz an, aus dem Peer für sich und seine Liebste, Solveig, ein von Neonröhren erleuchtetes Strichhäuschen zusammenbaut – es wird ihnen zur Kirche des kleinen Glücks.

Das Glück hält nicht, die Vergangenheit holt Peer ein. Im zweiten Akt liegen ihm, nunmehr Ballettchef, drei Vortänzerinnen zu Füßen, von denen eine mit ihrer Verballhornung des klassischen Balletts das Publikum zum Jubeln bringt, dann reißt ihn eine Flamenco-Truppe mit.

Mit dabei: der ehemalige Gauthier-Dance-Liebling Armando Braswell

Ingers Ballett ist nicht Tanz pur, sondern oft szenisches Theater, immer wieder mit skurrilem Slapstick durchsetzt; der Theaterchor tritt auf; und Solveig ist nicht einmal Tänzerin, sondern die Opernsängerin Ye Eun Choi, die mit ihrem Gänsehaut-Gesang verzaubert. Doch wenn Inger seinem Affen Tanz Zucker gibt, dann ist die Bewegung mitreißend und berührend: so etwa, wenn Peer auf sein Alter Ego, getanzt von dem ehemaligen Gauthier-Dance-Liebling Armando Braswell, trifft, sich aber nicht erkennt.

Der Isländer Frank Fannar Pedersen gibt seinem Peer so viel raumgreifende Dynamik, dass man sich den Tanz sofort herbeisehnt, sobald er nur gestisch-statisch agiert. Ingers Choreografie ist eigenwillig, kraftvoll, ideenreich; in seinem ersten abendfüllenden Handlungsballett überzeugt er mit seinem Gespür für den Raum wie für Ensemble-Kompositionen (was für ein berauschendes Männer-Ballett zu Beginn des zweiten Akts!) genauso wie mit seiner innigen Verbundenheit mit Edvard Griegs bekannter Vertonung, die um andere Stücke von Grieg sowie von Tschaikowsky und Bizet ergänzt wird. Thomas Herzog bringt mit dem Sinfonieorchester Basel Musik und Choreografie deckungsgleich und vielfarbig zusammen.

Mitten im Slow-Motion-Tanzrausch in einer spanischen Bodega stoppen Licht und Ton – Blackout. Was folgt, ist eine düstere Spekulation über die Zukunft. Am Ende aber wartet die Erlösung – daheim im Bullerbü-Idyll.