John Neumeier lässt sich mit „Purgatorio“ erneut von Gustav Mahler inspirieren. Das Ballett eröffnet die 37. Hamburger Ballett-Tage.

Hamburg - Der Komponist Gustav Mahler hat den Choreografen John Neumeier seit seinen Anfängen als Ballettdirektor in Frankfurt begleitet und zu Werken inspiriert. Bereits 1970 entstand "Rondo" und fünf Jahre später in Hamburg die "Dritte Sinfonie" - ein weltweit gezeigtes Schlüsselwerk im Neumeier-êuvre. Weitere sinfonische Ballette folgten, zuletzt 2005 "Nachtwanderung" zur siebten Sinfonie, in der zum ersten Mal der Komponist in persona auf der Bühne zu sehen war. Zu Chopin-Nocturnes inszenierte Neumeier eine Salonszene aus dem Fin de Siècle, in der zum Tee am Klavier musiziert wird. Über weiße Porzellantassen hinweg entspinnen sich diskrete, doch bedeutsame Liebeleien. Hier tauschen Alma Schindler und der viel ältere berühmte Wiener Dirigent und Komponist erste Blicke.

 

Im neuen Ballett "Purgatorio" zur Eröffnung der 37. Hamburger Ballett-Tage erzählt der Choreograf vom Ende der Ehe im Sommer 1910. Mahler entdeckt das Liebesverhältnis seiner Frau zum jungen Architekten Walter Gropius, stürzt in eine Gefühls- und Schaffenskrise. Für Neumeier ist die damals entstandene, unvollendet gebliebene zehnte Sinfonie nicht von der Person des Komponisten zu trennen. Sie sei aus dessen verzweifelter Lebenssituation entstanden, die der Choreograf in den traumhaften Seelenlandschaften und blaugrün changierenden Räumen seines biografischen Mahler-Balletts spiegelt.

Im Zentrum agiert eindringlich und intensiv spielend Lloyd Riggins als Musiker, der mit den Körpern von Tänzern die Noten in den schwarz ausgeschlagenen Bühnenraum schreibt. Seine Figur ist in eine den Solisten bedrängende Vierergruppe aufgespalten, die Zweifel und innere Kämpfe darstellt. Seinem kreativen Geist gibt schwebend leicht Alexandre Riabko Gestalt. Gemeinsam tanzen sie im dritten "Purgatorio"-Satz die Qualen im Fegefeuer von Gefühlsnot und Schöpfungsprozess. Ähnlich wie in den Künstlerporträts "Nijinsky" und "Tod in Venedig" verknüpft Neumeier in seinem elegisch dahinfließenden Balletttheater Mahlers Leben und Werk. Der Komponist wird zum Tanzkünstler, der auf der Probe mit dem Ensemble an seiner Bewegungspartitur arbeitet.

Frieden und Erlösung im Finale-Satz

Das allgegenwärtige Skizzenbuch verbindet und trennt Hélène Bouchets elegante Alma und Riggins bei ihren Pas de deux, in denen sie die tiefen Gefühlskonflikte der Figuren in eine linienklare Bewegungssprache übersetzen.

Zwischen das Paar tritt Thiago Bordin als attraktiver Liebhaber in Weiß. Jugendstilig pflanzenhaft verschlingen sich in den wunderbaren Trios zu Alma Mahler-Schindlers Orchesterliedern ihre Körper, lassen die unglückselige Verkettung emotionaler Widersprüche plastisches Bild werden. Die Sopranistin Charlotte Margiono vermeidet in ihrem exzellenten schlichten Vortrag jegliche Sentimentalität. Dirigentin Simone Young setzt bei der späten Würdigung von Alma Mahlers Kompositionen auf luzide transparenten Klang, betont dann in der Sinfonie-Interpretation mit den Hamburger Philharmonikern die Dissonanzen einer zerrissenen Musikerseele.

Sie findet Frieden und Erlösung im Finale-Satz. Für den Sterbenden vereinigen sich die Figur der Mutter und der Geliebten, die ihm Tee aus einer Porzellantasse anbietet. Wie der Komponist Mahler Motive aufgreift und in seinen Sinfonien verfolgt und abwandelt, zitiert auch der Choreograf Neumeier aus seinem Werk, spannt gedankliche Bögen zwischen seinen Balletten über die Künstlerproblematik und fügt ihnen ein weiteres, mit konzentrierter und subtiler Meisterschaft gezeichnetes Porträt hinzu.