Mit dem vierteiligen Abend „Farewell“ verabschiedet sich Kevin O’Day von Mannheim. Der Ballettchef am Nationaltheater verlässt das Haus nach 14 Jahren und 41 Produktionen zum Ende der Spielzeit.

Mannheim - BAND ist auf den hohen opakweißen Paneelen zu lesen, vor denen Männer und Frauen die Hüften schwingen. Dahinter jazzen zehn Musiker, Fusion, Oriental, Free oder Beebop, bis ein Paneel nach dem anderen umkippt, haarscharf an den Tänzerinnen und Tänzern vorbei, die sich auf die Bühnenseite zurückziehen. Eine Blonde indes tanzt selbstvergessen, fiebrig vor sich hin, während das Licht immer schwächer wird, nur Stille und Dunkel bleiben.

 

Die Schlussszene des grandiosen Stücks „I’m with the band“, für das der Choreograf Kevin O’Day Jazzmusiker der Region versammelt hat, ist auch das Ende des Tanzabends „Farewell!“ im Nationaltheater Mannheim (NTM). Der Titel hätte nicht besser gewählt sein können. Die Premiere ist ein Abschied: Ende dieser Spielzeit verlässt der US-Amerikaner das NTM, das Ballettensemble in dieser Form wird sich auflösen. Über den Nachfolger Stephan Thoss, einst Tanzchef in Wiesbaden, soll im Mai der Mannheimer Gemeinderat entscheiden.

Der Abschied von Seiten der Stadt nach 14 Jahren Kevin O’Day scheint kühl. Zwar danken Oberbürgermeister Peter Kurz und Kulturbürgermeister Michael Grötsch offiziell dem Choreografen für seine „neuen Formate, innovativen Ansätze und wichtigen Impulse“, betonen indes, „ein Wechsel in der Leitungsebene und damit verbunden neue künstlerische Handschriften“ seien üblich und erwünscht. Kurz vor dem 15. Amtsjahr macht das hellhörig, nach dieser Zeit werden am Theater Angestellte unkündbar. Das gilt zwar nicht für Kevin O’Day, der seit 2013 in einem neuen Führungsmodell einer von fünf NTM-Intendanten ist, indes für seine Frau und Stellvertreterin, die frankokanadische Choreografin Dominique Dumais, und manchen Tänzer.

Das Publikum hat sein Ensemble lieben gelernt

O’Day war in der Spielzeit 2002/2003 angetreten, nicht nur um die Neoklassik weiterzuentwicklen, sondern auch eine Plattform für neue Formate zu schaffen. 41 Produktionen sind entstanden, viele Ensemblestücke, Ballettabende wie Handlungsballette, oft mit Livemusik, vor allem mit dem Komponisten John King. War dem Publikum zu Beginn manches zu abstrakt und avantgardistisch, seine Tanzsprache zu athletisch, zu wenig Klassik, haben die allermeisten O’Day und sein Ensemble lieben gelernt. Werke wie die „Goldberg-Variationen“, „eine stunde zehn“, „Kammerspiel“, „Othello“ und zuletzt „Alpha Omega“ wurden begeistert aufgenommen, wie auch Dumais’ Stücke „Lebenslinien“, „Chansons“, „Frida Kahlo“ oder „PURE“. Seit 2005 präsentiert das Paar ihre Tänzer als Tanzschaffende im Format Choreografische Werkstatt. Für Kritiker vereinen O’Day und Dumais in idealer Weise mehrere Tanzwelten, harte und weiche Linien, Abstraktion und Narration.

Jenseits aller Geschmackssachen zeigt indes „Farewell!“, wie viel künstlerisches Potenzial Mannheim verlassen wird. „Wir wollten die hiesige Tanztradition darstellen, das musikalische Potenzial der Rhein-Neckar-Szene einbinden – und dem Publikum mit ihren Lieblingen danken“, so O’Day. Und so entschied sich das Team statt einer Gala für längere Ausschnitte aus vier Stücken von 2008 bis 2014.

Körperempfinden und Bewegungsrepertoire

Auftakt bildete der dynamische dritte Akt von „Tracing Isadora“, das vom Tanzfonds Kulturerbe der Kulturstiftung des Bundes gefördert wurde. Dominique Dumais folgt darin den Spuren der Begründerin des modernen Tanzes, der US-Amerikanerin Isadora Duncan. Auch in Württemberg gab es in den zwanziger Jahren eine lebendige Szene des Ausdruckstanzes, in den fünfziger Jahren arbeitete die Ausdruckstänzerin Mary Wigman in Mannheim. Duncan entwickelte ein neues natürliches Körperempfinden und Bewegungsrepertoire – Befreiung von allem Rigiden, der bare Fuß statt Spitzenschuh, wallende Gewänder oder Nacktheit statt Korsage. Dumais bedient sich Duncans Sprache, aber ohne diese zu kopieren oder gar narrativ zu werden. Lyrische Pas de deux oder Pas de trois wechseln mit ausdruckstarken, minimalistischen Gruppenszenen, die Tänzer wiegen und biegen sich, werden zu Licht, Wind, Wellen – Tanz um des Tanzens willen!

Die Begriffe des Begegnens und sich Entfremdens ziehen sich durch Kevin O’Days konzentrierten Pas de deux „We will . . .“, das er zu Georg Friedrich Händels emotionsgeladenem „Lascia ch’io pianga“ aus der Oper „Rinaldo“ schuf. Wie das Paar es miteinander versucht, sich anzieht und abstößt und immer wieder um einen Neuanfang bittet „Can we start again?“, hinterfragt mehr als deren Beziehung: den Status quo des Tanzes.

Leonard Cohen brummelt „Dance me to the end of love“

Auch in Dumais’ „Chansons“ geht es um Beziehungen. Mitreißend, wie das Ensemble von den Logen und Seiteneingängen auf die Bühne stürmt, Stühle positioniert, um sich einer Art Tanztee zu Jeff Becks „Halleluja“ oder Isabelle Boulays Version von Brels ikonenhaftem Song „Amsterdam“ hinzugeben. Ob ein Mann im Paillettenkleid und High Heels seine Muskeln spielen lässt, Paare sich einen handfesten Tanzstreit liefern oder die dreizehn Männer und Frauen einander Hüte und Klamotten zuspielen, bis zum letzten Takt geht dies unter die Haut. Genial das Ende: Leonard Cohen brummelt „Dance me to the end of love“, die Tänzer starren lange bewegungslos in Tableau-Manier auf das Publikum, bevor sie von der Bühne gehen.

Was macht Kevin O’Day nach seinem Weggang? „Ich habe mein freies Netzwerk aktiviert“, so der Mann, der beim New York City Ballet und in Mikhail Baryshnikovs White Oak Dance Project tanzte. „Hier war mein Anliegen die Tanzszene nach vorne, freie Kunstschaffende und Stadttheater zusammenzubringen – und vor allem mit dem Publikum in Verbindung zu treten.“ Das wird ihn vermissen, wie am Premierenabend geäußert wurde. Ein Trost: „Farewell!“ ist noch bis zum 26. Juni zu sehen, am 29. April wird Dominique Dumais ihre letzte Premiere zeigen: „Naked“ – und es folgt eine Choreografische Werkstatt.