Die Stadt bemüht sich, Menschen ohne Augenlicht eine freie Fortbewegung zu ermöglichen. Allerdings sind diese Versuche mit Kompromissen behaftet und hinterlassen Fragezeichen. Letztlich endet die Freiheit abrupt.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Böblingen - Der Sachverhalt sei schwierig, aber nach Jahren der Planung „ist ein guter Kompromiss gefunden worden“. So lässt es der städtische Pressesprecher Fabian Strauch wissen. Allerdings hinterlässt der Kompromiss manche Frage, zuoberst eine grundsätzliche: Warum hat die Stadt Böblingen ausgerechnet für Blinde eine Ampel mit Rot- und Grünlicht aufbauen lassen? Die Ampel steht an der Straße vor dem Bahnhof. Dort gilt Tempo 20, und auch ohne die Anlage waren Fußgänger und Autofahrer gefahrlos aneinander vorbeigekommen. Jetzt stockt der Verkehr. Zwar ist nach wie vor erlaubt, ohne Ampelhilfe die Straße zu überqueren. Darauf weist aber nur ein Schild mit der Aufschrift „Bei Bedarf drücken“ hin. Was etliche Gesetzestreue so verstehen, dass sie nicht drücken können, sondern drücken müssen.

 

Gefordert hat die Ampel tatsächlich der Blinden- und Sehbehindertenverband, und die grundsätzliche Frage beantwortet der Vorsitzende der Böblinger Stadtgruppe, Martin Stürner: Das Licht leuchtet nicht für Blinde, sondern für Sehende. Busfahrer können per Funk den Fußgängerstrom stoppen, „damit der Busverkehr abfließen kann“, sagt Stürner. Auch wenn er dies früher ohne die Anlage konnte. Blinden meldet die Ampel akustisch grünes Licht, wenn sie einen Zusatzknopf unterhalb der Taste fürs Grünlicht drücken.

So mancher Versuch bleibt ein Kompromiss

Die Akustik ist ansonsten allerdings ein Kompromiss, wie manch anderer Versuch, Blinden freie Fortbewegung zu ermöglichen: Am anderen Ende der Fußgängerzone, am Elbenplatz, piepen die Ampeln unüberhörbar. Blinde finden sie, indem sie diesem sogenannten Pilot-Ton folgen. Ausgerechnet die neue Ampel am Bahnhof, die eigens für sie aufgestellt wurde, tickt hingegen sehr verhalten. „Ich finde das auch ein bisschen leise“, sagt Stürner. Das Ticken sei ein Kompromiss gewesen, um keine Anwohner zu stören. Was an anderer Stelle nicht von Belang scheint: Die Fußgängerampeln im Flugfeld-Wohngebiet piepen laut und munter.

Hinter der Ampel am Bahnhof beginnt in Richtung Elbenplatz die Blindenleitlinie – in den Bodenbelag gefräste Vertiefungen, an denen sich Blinde mit ihrem Stock orientieren können. Allerdings folgt schon nach wenigen Metern das erste Hindernis, jedenfalls bei schönem Wetter. Immer wieder ist die Leitlinie mit Tischen und Stühlen des Cafés im Einkaufszentrum Mercaden zugestellt. Wer versucht, sich mit dem Blindenstock durchzutasten, klopft im Zweifel an die Schienbeine der Gäste.

Nach dem Café sollen sich Blinde ohne Linie an der Fassade der Mercaden entlangtasten. So ist es auch in anderen Städten üblich. In Böblingen allerdings „hat das einen Nachteil, die Fassade ist immer wieder versetzt“, sagt Stürner. Streckenweise weicht die Mauer um rund anderthalb Meter zurück. Wer dort nicht unverdrossen geradeaus geht, irrt im Zickzack umher. Dies gilt auch an anderer Stelle. Am anderen Ende des Einkaufszentrums folgt das nächste Hindernis. Auch die Gäste des Eiscafés dort verstellen regelmäßig die Leitlinie. „Das Ordnungsamt weist die Wirte immer wieder darauf hin“, sagt Stürner. Bisher ohne dauerhaften Erfolg. Auf der anderen Seite des Bahnhofs – an der Konrad-Zuse-Straße – hat die Stadt selbst die Leitlinie zugestellt: mit Verkehrsschildern.

Die Leitlinie führt direkt zu den Stufen eines Optikers

Auf der Fußgängerzone dient das nächste Stück Leitlinie zum Überqueren der Wilhelmstraße. Als Bonmot darf gelten, dass es direkt vor den Stufen endet, die zur Ladentür eines Optikers führen. Dahinter ecken Blinde auf dem Weg an der Hauswand entlang immer wieder an Werbeaufstellern von Geschäften an. Stürner umgeht alle Hindernisse, indem er die Linie schlicht missachtet. „Ich laufe gern in der Mitte“, sagt er. Dort wäre im Idealfall die Linie gefräst worden. Dagegen sprach aber die Sicherheit, denn in der Fußgängerzone ist das Radfahren erlaubt. Zudem stehen immer wieder Transporter von Lieferanten mit geöffneter Ladeklappe im Weg.

Ungeachtet aller Hürden „sind wir froh, dass wir die Linie überhaupt bekommen haben“, sagt Stürner. Die Stadtplaner hätten versucht, sie zu verhindern, nicht zuletzt aus Gründen der Optik. Allerdings endet die Bewegungsfreiheit für Blinde mit der Fußgängerzone. Nach dem Überqueren der Herrenberger Straße fehlt jegliche Orientierungshilfe. Der Grund ist schlicht: Auf dem Elbenplatz würden die Händler des Wochenmarkts eine Leitlinie regelmäßig mit ihren Ständen zustellen.