Bei seinem Club Manchester United hat die Götterdämmerung gerade begonnen. In der Nationalelf ist Bastian Schweinsteiger mit seinem Rücktritt einem unwürdigen Ende zuvorgekommen.

Stuttgart - Der Körper, der sich wuchtig zum Kopfball nach oben schraubt. Der Arm, der wie fremdgesteuert nach oben ausfährt. Die Hand, die unfreiwillig und doch scheinbar zielgerichtet den Ball berührt. Der Pfiff. Der Elfmeter. Das 0:1. Später das 0:2, das Aus. Das alles sind die letzten, die frischesten Bilder des deutschen Nationalspielers Bastian Schweinsteiger. An jenem Abend Anfang Juli in Marseille illustrieren sie nur die Halbfinal-Niederlage des Weltmeisters bei der EM in Frankreich. Gut drei Wochen später stehen sie für das Ende einer großen Karriere im Trikot des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), von der auf Dauer aber ganz andere Bilder in den Köpfen hängenbleiben werden. Sie datieren aus dem Jahr 2014.

 

13. Juli, Maracanã-Stadion, Rio de Janeiro. Im WM-Endspiel gegen Argentinien steht es 0:0, Spitz auf Knopf also, und nichts benötigt die deutsche Elf nun dringender als einen unerschrockenen Zweikämpfer, unerbittlichen Grätscher und unbedingten Anführer – Bastian Schweinsteiger also. Der Münchner warf sich in alles, was sich ihm in den Weg stellte, er ging voran als „emotional leader“, wie ihn Bundestrainer Joachim Löw geadelt hatte. Er ließ sich auch von einer blutenden Platzwunde im Gesicht nicht bremsen, im Gegenteil, sie schien seinen Furor nur noch anzustacheln, der Oberschenkel brannte und schmerzte und drohte ihm den Dienst zu versagen – bis nach dem 1:0 durch Mario Götze in der 113. Minute endlich der Schlusspfiff ertönte. Weltmeister! Nicht mit, sondern dank Schweinsteiger, der an diesem Abend das Spiel seines Lebens ablieferte und zur umjubelten Symbolfigur des deutschen Triumphes aufstieg.

Die Enttäuschung der EM sitzt tief

Zwei Jahre liegen zwischen Höhepunkt und Schlusspunkt seiner großen Karriere, und natürlich hat sich Bastian Schweinsteiger in dieser Zeit das eine oder andere Mal gefragt, wann wohl der richtige Zeitpunkt für seinen Rücktritt sei. 2014, als seine langjährigen Weggefährten Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker ihren Abschied nahmen? Damals war er 29 Jahre alt, zu jung für den sportlichen Ruhestand und zu gierig nach dem nächsten Erfolg – dem EM-Titel 2016. Zu verlockend schien ihm die Aussicht, nach dem Vorbild Spaniens dem Weltmeisterpokal gleich die nächste Trophäe folgen zu lassen. Das ging, wie er nun weiß, auf tragische, da selbst mitverschuldete Weise schief. Danach saß die Enttäuschung tief, doch sie allein ließ in ihm nicht die Erkenntnis reifen, dass gerade jetzt der richtige Zeitpunkt für seinen Rücktritt sei.

Inzwischen ist Schweinsteiger zwei Jahre älter, und das ist in seinem Fall durchaus ernst zu nehmen. Schon seit längerem hat er sich abgemüht, den Verschleiß zu stoppen, der Zahn der Zeit nagte an seinem Körper, der den Belastungen immer augenfälliger zu erliegen drohte. 2014 wurde er gerade rechtzeitig fit, um zum Volkshelden aufzusteigen. 2016 schaffte er nach zwei Innenbandrissen im Knie erneut den Anschluss, doch diese unwiderstehliche Form erreichte er nicht mehr. Womöglich fehlten ihm bei seinem Missgeschick gegen Frankreich gerade die paar Prozent an Fitness, die über Sieg und Niederlage entscheiden. Noch mal zwei Jahre, bis zur WM 2018, das wäre zu viel, wusste Schweinsteiger, weshalb er am Freitag bei Twitter seinen Rücktritt erklärte. „Mit dem Gewinn des Weltmeistertitels 2014 ist uns historisch und auch emotional etwas gelungen, was sich in meiner Karriere nicht mehr wiederholen lässt. Deshalb ist es richtig und vernünftig, nun Schluss zu machen“, schrieb er. Zuvor hatte er Bundestrainer Joachim Löw in dessen Sardinien-Urlaub von seinem Entschluss informiert. Löw mag mit diesem Schritt bereits gerechnet haben. Er stellte „das absolute Vertrauen“ zu seinem Kapitän heraus: „Ich als Trainer habe viel von ihm profitiert.“ Für Oliver Bierhoff, den Nationalmannschaftsmanager, hat Schweinsteiger nach der enttäuschenden EM 2004 gar „den Aufbruch des deutschen Fußballs entscheidend mitgestaltet“, mit dem Höhepunkt 2014: „Da hat er all seine Qualitäten gezeigt – unbedingter Einsatz, Mannschaftsgeist, Härte gegen sich selbst und einen absoluten Siegeswillen.“

Das Ende einer großen Ära

120 Länderspiele, sieben Turnier-Teilnahmen, Weltmeister 2014, WM-Dritter 2006 und 2010, Vize-Europameister 2008 – der Profi aus dem bayerischen Kälbermoor hat fürwahr eine große Ära geprägt. In seinen zwölf Jahren als Nationalspieler sei es ihm „immer eine Ehre“ gewesen, zur DFB-Elf zu gehören, die er als eine „wertvolle Familie“ bezeichnet. Mehr noch als das vorzeitige EM-Aus hätte ihn wohl geschmerzt, den Anlauf auf einen weiteren Titel erst gar nicht gewagt zu haben. „Jogi Löw wusste, wie viel mir die EM 2016 bedeutet hat, denn ich wollte diesen Titel, den wir seit 1996 nicht mehr nach Deutschland holen konnten, unbedingt gewinnen“, sagte er. Es sollte nicht sein.

Statt überschäumenden Jubelbildern aus dem Endspielstadion in St. Denis lieferte Bastian Schweinsteiger Mitte Juli Fotos seiner Hochzeit mit dem Tennisstar Ana Ivanovic in Venedig – sein persönliches Sommermärchen 2016. Darauf ist ein immer noch junger, aber doch gesetzter Mann zu sehen, dem inzwischen graue Schläfen gewachsen sind. Sie deuten auf eine Zeitenwende in seinem Leben hin, vor allem in seinem Sportlerleben, das nun eine neue Perspektive erhält – mal gewollt, mal ungewollt.

Als er am Freitag seinen Abgang bekanntgab, wartete alle Welt eigentlich auf ein Wort von ihm zu Spekulationen, wonach er bei seinem Club Manchester United vor dem Aus stehe. Trainer José Mourinho habe Schweinsteiger zusammen mit acht Mitspielern auf eine Streichliste gesetzt, heißt es. Als Indiz gilt ein Foto, auf dem Mourinhos Frau Matilde vor einer Taktiktafel zu sehen ist, auf welcher der Name Pogba steht. Paul Pogba (23) ist jener französische Vize-Weltmeister, der zurzeit allen den Kopf verdreht, allen voran ManU, das ihn unbedingt verpflichten will. Für die Weltrekordablöse von 120 Millionen Euro an aufwärts könnte der Deal in Kürze über die Bühne gehen. Als zentraler Mittelfeldspieler ist Pogba ein direkter Konkurrent für Schweinsteiger, der, so heißt es, nach der Rückkehr aus den Flitterwochen bei der U 23 mittrainieren muss.

Die Götterdämmerung hat also längst eingesetzt, zumindest im Verein. In der Nationalmannschaft, in der Torhüter Manuel Neuer womöglich die Kapitänsbinde übernimmt, ist Bastian Schweinsteiger einem solch unwürdigen Ende gerade rechtzeitig zurvorgekommen. Auch darin ist er also Vorbild. Bestenfalls auch für Lukas Podolski (31), von dem wohlmeinende Beobachter behaupten, er hätte den gleichen Schritt viel dringend nötig als sein Kumpel Schweini.