Die Stuttgarter Wohnsiedlung Ziegelklinge im Stadtteil Heslach ist kulturhistorisch mit der Weißenhofsiedlung gleichauf. Derzeit werden die Bauten saniert – dann wohnt man hier schick und günstig.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-Süd - Dass man Ende der 1920er Jahre Tuberkulosekranke zum Luftkuren nach Stuttgart schicke, klingt in Tagen des Feinstaubalarms nach einem Treppenwitz der Geschichte. Tatsächlich erbaute die Stadt in den Jahren 1927/28 am südlichen Steilhang oberhalb des Südheimer Platzes eine Art Zauberbergle für Lungenkranke und deren Angehörige. Fünf parallel angeordnete Blocks mit je drei Geschossen und 26 Wohneinheiten entstanden – von den Einheimischen halb spöttisch, halb mitleidig „Hustenburg“ genannt. Im obersten Stock befand sich je eine Loggia, auf der die Patienten Luft und Sonne tanken sollten. Aber die Kranken kamen nicht; das Konzept ging nicht auf, und so wurden die Gebäude kurzerhand zum Ledigenwohnheim umgewidmet.

 

Sanfte Sachlichkeit

Was dem Auge des Laien rasch entgeht, da die Gebäude gleichsam unter den Kutten ermüdeter Farbanstriche vergangener Jahrzehnte stecken, ist, dass es sich bei dem Ensemble um ein architektonisches Schmuckstück handelt. „Die Ziegelklinge ist genauso hochkarätig wie die Weißenhofsiedlung“ und noch dazu komplett erhalten – im Gegensatz zur weltberühmten Werkbund-Kolonie im Norden der Stadt, sagt Helmuth Cäsar, technischer Geschäftsführer bei der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG).

Die Ziegelklinge war die erste stadteigene Siedlung im Stil der Neuen Sachlichkeit und steht heute unter Denkmalschutz. Mit den Entwürfen betraut wurde damals der Stuttgarter Architekten Albert Schieber (1875-1946), Mitglied des Deutschen Werkbundes. Nach seinen Plänen entstand unter anderem auch das Gebäude des heutigen Stadtarchivs in Bad Cannstatt am Bellingweg 21. Die Wohngebäude in Heslach sind allerdings keineswegs porentief funktional und kompromisslos modern. Dem radikalen Schnitt hat der Architekt einen sanften Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne vorgezogen. So sind zwar die Aufteilungen und Proportionen, die Balkone im Obergeschoss oder auch die Gestaltung von Details wie Geländern ganz im Stil des Neuen Bauens gehalten. Andererseits finden sich noch Sprossenfenster mit Fensterläden.

Die SWSG ist heute stolze Besitzerin der Siedlung und zeigt sie bei der jährlichen Presserundfahrt gerne vor, zumal sie derzeit schön hergerichtet wird. Wegen der steilen Hanglage und der Erschließung der Gebäude über enge Stiegen seien die Bauarbeiten ein logistisches Abenteuer, führt Helmuth Cäsar aus. „Wir mussten alles ganz genau prüfen – jede Sockelleiste, jeder Teppich. Nur das, was nicht zeittypisch war, durften wir verändern“, berichtet der technische Geschäftsführer. Momentan streite man etwa mit der Denkmalbehörde darüber, ob der Außenbereich mit den alten Wäscheleinen erhalten werden muss oder umgenutzt werden darf.

Schick & günstig wohnen

Die komplette Infrastruktur der Häuser musste erneuert werden. Beispielsweise wurden Gaseinzelöfen ersetzt. Fenster und Putz wurden erneuert, Dämmung angebracht, Dächer abgedichtet. Außerdem wurden neue Bäder und Küchen eingebaut. Inzwischen ist ein großer Teil geschafft. Abgeschlossen werden die Sanierungsarbeiten aber erst im Laufe dieses Jahres. Die Bewohner wurden interimsweise umquartiert. Wenn sie in ihre alten Wohnungen zurückkehren, müssen sie nicht wie sonst üblich eine Mietexplosion fürchten: Bei acht Euro für den Quadratmeter liegt der Preis für Bestandsmieter, Neumieter bezahlen 10,80 Euro pro Quadratmeter. Allerdings sind 90 Prozent der Wohnungen bereits von Altmietern belegt, sagt Peter Schwab, der Pressesprecher der SWSG.

Ähnlich wie die Ziegelklinge sind die Insel-Siedlung in Wangen und die Wallmer-Siedlung in Obertürkheim einer Modernität verpflichtet, die sich an den Maximen des Funktionalismus orientiert. Die beiden Arbeitersiedlungen, die ebenfalls auf der Pressefahrt besichtigt wurden, sind mittlerweile wieder beliebte Wohnquartiere. Die SWSG hat auch hier umfangreich modernisiert, die Häuser wieder wohnlich gemacht und denkmalpflegerisch gerettet.