Nur 15 Prozent der bayerischen Flüsse sind in gutem ökologischem Zustand. Jetzt steckt der Freistaat über eine Milliarde Euro in die Sanierung. Fehler aus hundert Jahren sollen ausgemerzt werden – um den Preis so mancher Illusion.

Weilheim - Die Sonne strahlt aus Leibeskräften, die Gesichter unten tun es ihr nach. Es ist ein Festtag am Ufer der Ammer. Einer der seltenen, auf dem offenbar kein Schatten liegt. Sie weihen ein neues Wehr dort ein; mehr als zwei Millionen Euro hat es gekostet. Das Schönste daran: Man sieht nichts davon. Genau so ist es auch gewollt. So soll es sein. Die Ammer, dieses 84 Kilometer lange Gewässer zwischen Oberammergau und Ammersee, ist in Bayern der einzige Alpenfluss, der unverbaut und ungehemmt zu Tale brausen darf. Besser gesagt: Nach hundert Jahren, in denen man sie reguliert, begradigt, abgesenkt, in ein Bett aus Bruchsteinen gezwängt und alle paar Kilometer durch Betonriegel aufgehalten hat, darf die Ammer wieder Natur sein.

 

Niemand zwingt sie, Strom zu produzieren – elf Bauanträge für Kraftwerke hat man in letzter Minute abgewendet. Und das neue Wehr bei Weilheim, gut 30 Kilometer südlich von München, ist im klassischen Verständnis eigentlich gar keines. Das alte Wehr, diese ohnehin baufällige Betonbarriere, ist raus; ersetzt hat man es durch eine 150 Meter lange „Sohlgleite“. Jetzt staut sich kein Wasser mehr zu trägem Tümpel, jetzt hört man es wieder rauschen über diese flache Rampe aus Felsbrocken, die so scheinbar ungeordnet aufgeschüttet sind, als hätte die Ammer selber sie herangeschafft, und zwischen denen abgestorbene Bäume liegen, als wär’s Strandgut vom letzten Hochwasser.

Verspätet oder zu ehrgeizig?

Doch all das ist künstlich. Es soll nur aussehen wie „Natur pur“ von einst. Nur scheinen, nicht sein. Denn: „Wollen Sie etwa auch die Überschwemmungen von einst wieder haben?“, fragt Roland Kriegsch, der Chef des Wasserwirtschaftsamts Weilheim: „Man muss schon beides zusammendenken, Hochwasserschutz und Natur.“ Nichts haben die Wasserbautechniker dem Zufall überlassen. Das wissen auch die Kanufahrer, denen man genau gesagt hat, zwischen welchen Felsbrocken sie durch müssen, um die neue „wilde“ Rinne zu erreichen, die selbst bei niedrigem Wasserstand niemanden auflaufen lässt.

Die Renaturierung der Ammer, dieses „Naturjuwels“, wie Bayerns Umweltministerin Ulrike Scharf schwärmt, gehört zur 1,2 Milliarden Euro schweren Umsetzung der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie aus dem Jahr 2000. Ihr zufolge sollen Europas Flüsse wieder in einen „guten ökologischen Zustand“ gebracht werden. Besser gesagt: sollten. Denn das erste Zieldatum, 2015, ist längst verpasst. So geht es aktuell auch nur 15 Prozent der 900 bayerischen Flüsse gut bis sehr gut. Den großen Rest, 559 an der Zahl, will die Landesregierung frühestens in vier Jahren anpacken. Wissenschaftler wie Jürgen Geist von der Technischen Uni München halten selbst das Jahr 2027 als nun zweiten Zielhorizont für allzu ehrgeizig: „Die Schweiz gönnt sich dafür achtzig Jahre.“

Fische, bitte abbiegen!

Aber wann hält die EU-Richtlinie einen Fluss für ökologisch gut? Das bemisst sich unter anderem an der Lebensqualität der Fische. Barrierefreiheit, Durchgängigkeit möglichst von der Mündung bis zur Quelle heißt die Parole. So freuen sich die Vertreter des Landesfischereiverbands, dass erstmals seit hundert Jahren Seeforellen aus dem Ammersee wieder zum Laichen hinaufziehen könnten in die kiesig-kühlen, sauerstoffreichen Quellgewässer der Alpen. Ohne Betonschranken, ohne Kraftwerksturbinen, die als Häcksler wirken. Und Arten wie Nasen oder Barben, die es gemütlicher oder trüber mögen, die finden gleich neben der immer beschwimmbaren „rauen Rampe“ des neuen Ammer-Grundwehrs einen zusätzlichen „Fischpass“, über den sie in wärmere, bisher abgeschnittene Altwässer einbiegen können.

Will sagen: Der Fluss in seiner ganzen Länge wird wieder lebendiger, vielfältiger. So wie in der guten alten Zeit eben. „Wenn das nicht eine Illusion ist“, meint Professor Jürgen Geist. Vermutete Fischbestände von einst nachzubilden, fragt er sich, geht das denn noch, im Zeitalter des Klimawandels, der höheren Wassertemperaturen, der veränderten Nahrungssituation und der Masseneinwanderung? Grundeln aus dem Schwarzen Meer beispielsweise seien in den letzten zehn Jahren weit die Donau heraufgezogen; sie halten sich mit saugnapfähnlichen Flossen genau an jenen Bruchsteinen fest, mit denen Flüsse bisher gezähmt werden sollen. „Das schafft kein einheimischer Fisch“, sagt Geist, da ist Verdrängung im Gang. Oder Flusskrebse: „Wir mussten Tausend beproben, um auch nur eine einheimische Art zu finden.“ Oder bewusst eingesetzte Fremdarten wie die Regenbogenforelle, Anglers Liebling: „Jeder Fischer, der etwas einsetzt, selektiert den Bestand.“ Überhaupt, sagt Geist, geschehe Renaturierung vielfach „aus dem Bauchgefühl heraus, weniger nach wissenschaftlichen Erkenntnissen“. Verantwortlich mit Steuergeld umgehen hieße auch, Prioritäten zu setzen – also nicht flächendeckend viele Millionen in „degradierte“, der Stromerzeugung ausgelieferte Flüsse von mäßiger Qualität zu pumpen, um dort „minimale Effekte“ zu erzielen, sondern sich auf die guten zu konzentrieren und diese „exzellent“ zu machen.

Neue Freizeitparadiese

Sehr vieles sei ja schon erreicht, meint der Forscher: moderne Kläranlagen, Ringkanäle um die Seen schafften sehr sauberes Wasser; das Problem der Versauerung, „noch vor 15 Jahren ein wichtiges Thema“, sei dank des schwefelfreien Kraftstoffs sogar gelöst. Dem schwimmenden und gründelnden Kleintierzoo gehe es heute gut, sagt Geist, und positiv wirke dann auch der enorme Freizeitwert renaturierter Flüsse.

Bier, Grill und Blasmusik

Ihn genießen in diesen Sommerwochen Tausende von Münchnern jeden Tag. Seit bis 2011, in spektakulärem, jahrelangem Umbau, das Steinkorsett der Isar aufgeschnürt worden ist, darf diese im Stadtgebiet (unter Aufsicht) wieder machen, was sie will. „Die Reißende“ – so der keltische Ursprung des Flussnamens – hält ihre Ufer flach, legt Kiesbänke an und baut sie um. Sie schafft ideales Gelände zum Sonnenbaden, zum Grillen, zum Waten und Schwimmen; ein soziales Ventil für arbeitseingesperrte Stadtmenschen. Zutritt frei.

Und gar hinauf nach Wolfratshausen, Bad Tölz, von wo die beliebten Partyflöße mit ihren bier- und blasmusikseligen Besatzungen herabschwimmen, und wo aus Garmisch-Partenkirchen die Loisach dazustößt, dort sieht die Isarlandschaft so weit und urtümlich aus wie eine von Menschen unberührte sibirische Tundra. „Da ist etwas entstanden, das als Ziel-Landschaft dienen kann“, sagt Roland Kriegsch vom Wasserwirtschaftsamt. Dabei ist diese „Ur-Isar“ noch ungleich stärker als die Ammer von Menschen gesteuert bis ins Kleinste.

Segens- und arbeitsreicher Speicher

Oben im Karwendelgebirge nämlich lässt der Damm des Sylvensteinspeichers gerade so viel Isarwasser durch, wie Mensch und Tier und Stromwirtschaft brauchen beziehungsweise vertragen. In seinen nunmehr sechzig Jahren hat dieser Stausee die Stadt München auch zu schlimmster Unwetterzeit vor jeder Überflutung bewahrt; diese seine Hauptaufgabe erledigt er blendend. Der Damm hält zudem das „Geschiebe“ zurück, diese hunderttausend Kubikmeter Kies pro Jahr, die Wildbäche und Isar mit sich reißen.

Dieser Effekt galt früher mal als willkommener Schutz für die Gemeinden weiter unten. Heute, sagt Kriegsch, habe man anderes gelernt: Wo man dem Fluss die Transportarbeit wegnimmt, weiß er nicht mehr wohin mit seiner Energie. Dann wühlt er sich immer tiefer ins Gelände, unterspült Ufersicherungen, schnürt Seitengewässer ab, senkt den Grundwasserspiegel unter Äckern und Wiesen, legt Auen und Moore trocken. Abgesehen davon, dass ein solcher Fluss, immer schneller, geradliniger und optisch recht eintönig durchrauschend, auch keinen Lebensraum für Fische lässt. Und weil ohne Kiesnachschub auch das Freizeitvergnügen der Münchner bald wieder zu Ende wäre, setzen Kriegsch und seine Mannen viele Maschinen in Bewegung: Bagger holen das „Geschiebe“ aus dem Sylvensteinsee, Lastwagen fahren es um den Staudamm herum und kippen es unterhalb wieder in die Isar.

Wie sag ich’s meinem Fisch?

Zehntausend Kubikmeter sind das jedes Jahr, Kriegsch will die Menge verdoppeln, „um die Sohle der Isar wieder hochzukriegen“ und nicht nur einen Flusslauf zu sanieren, sondern auch noch den Wasserhaushalt einer ganzen Gegend. Dann zeigt er Bilder, wie fröhlich die Isar früher mal durch diese Gegend mäanderte, mal hier einen Lauf grabend, mal dort einen. So frei ist sie heute nur noch auf ihren ersten paar Karwendel-Kilometern. Aber diesen Naturzustand auch weiter unten wieder herzustellen wäre zumindest in einer Hinsicht unproblematisch, sagt Kriegsch: „Anders als bei der Ammer müssten wir uns an der Isar das dafür nötige Gelände nicht eigens zusammenkaufen. Das gehört heute schon dem Staat.“

Weit schwieriger, meint der Wissenschaftler Jürgen Geist, sei da schon etwas anderes: den Fischen beizubringen, dass sie die neuen „Sohlgleiten“ und „Fischtreppen“ nicht nur als Aufstiegshilfe benutzen, sondern auch für den Rückweg. Sonst, gewohnheitsmäßig die stärkste Strömung nehmend, landen sie doch nur wieder im Fleischwolf von Kraftwerksturbinen. Und all die schicke, teure Renaturierung geht – nun ja – den Bach hinunter.